Roman von Joachim Gerlach

Der Bug des Schiffes schob sich über den Wellenkamm, kränkte nach Steuerbord, um sich dann in dieser Schräglage erneut ins Wellental zu stürzen.
Das Schiff, mit dem Achterdeck noch jenseits des Wellenkamms, schrie verhalten.
Die infolge der Überdehnung des Rumpfes bis zum Zerreißen gedrehten und gespannten Träger und Spanten zeigten die Grenzen ihrer Belastbarkeit hörbar an.
Eisige See schlug nun über die Back, stieg an den Brückenaufbauten nach oben, nahm dem Rudergänger trotz der in die Brückenfenster eingesetzten, jetzt schnell rotierenden kreisrunden Spezialscheiben für Momente die Sicht.
Die Reling des Schiffes war rundum dick mit Eis behangen, das gesamte Oberdeck nebst aller Aufbauten erinnerte eher an ein mit Zuckerguss und Puderzucker veredeltes Pfefferkuchenhaus als an ein Hilfsschiff der Volksmarine.
Das Schiff, wenige Jahre vorher noch mit einem 85-Millimeter-Buggeschütz und vier, jeweils zwei davon backbord- und steuerbordseitig, in sogenannten „Schwalbennestern“ befindlichen 25-Millimeter-Schnellfeuermaschinenwaffen ausgerüstet und als Minensuchschiff im aktiven Räumeinsatz auf den Seewasserstraßen der Ostsee im Einsatz, diente umgerüstet und von seinen tot-speienden Gerätschaften befreit nunmehr als Rettungs- und Lazarettschiff.
Den vierten Tag schon stampfte das Schiff vom Heimathafen Saßnitz auf Rügen, wechselseitig getrieben von je einer der beiden backbords und steuerbords gelegenen Hauptmaschinen, in langsamer Fahrt durch die winterlich-stürmische See dem estnischen Hafen Tallinn mit acht bis zehn Knoten entgegen.
Seine Fracht bestand aus reichlich vierzig jungen Marinesoldaten, welche zur Ergänzung der Restbesatzungen zweier in der sowjetischen Kriegswerft von Tallinn liegenden und dort mit radargesteuerter Waffenleittechnik nachgerüsteten Raketenschnellbooten bestimmt waren.
Die Boote lagen in der Werft seit dem Frühjahr des Jahres bereits eine geraume Zeit, für das Kommando der Volksmarine in Rostock mittlerweile zu geraum.
Die Nachrüstung schleppte sich dahin, diesbezügliche, immer drängendere Anfragen seitens der deutschen Verbündeten erbrachten von sowjetischer Seite aber nichts anderes als das altbekannte russische „budjet, budjet“.
Nun, wenige Tage vor dem Weihnachtsfest des Jahres 1966, schien der Knoten offenbar gerissen, das war auch bitter nötig, denn jede weitere Verzögerung hätte das Überwintern der Boote in Tallinn erforderlich gemacht, einer Überführung in der vereisten Ostsee hätten die nur wenige Millimeter starken stählernen Außenhäute der Boote nicht standgehalten.
Der Einbau und die Justierung der Technik befanden sich in der abschließenden Phase, das Erprobungsschießen mit dem neuen Waffenleitsystem stand allerdings noch bevor.
Dann könnten die Boote in ihren deutschen Stützpunkt in den nordwestlichen Buchten Rügens mit jetzt auch wieder kompletten Besatzungen zurückgeführt werden.
Noch aber bewegten sich die Auffüllbesatzungen eingangs des Finnischen Meerbusens in stürmischer See, zumeist lagen sie gleich welchen Dienstgrades völlig erschöpft, von mehrtägiger Seekrankheit zermürbt und ausgelaugt im Vierzig-Mann-Deck in ihren Hängematten und konnten weder leben noch sterben.
Im Deck stank es, hält man sich wortwörtlich an den Ausdruck des Maschinenmaates des Rettungsschiffes, wie in einem „fünfstöckigen hinterindischen Männerpuff“.
Holstein, von der üblen Plage der Seekrankheit nicht erfasst, stand auch heute unterhalb der Brückennock an der Backbordseite und konnte sich nicht sattsehen an der aufgewühlten See.
Immer wieder schäumte ihm die salzige, eiskalte Gischt ins Gesicht, lief über Kapuze und pelzgefütterte Schnellbootjacke.
Genauso hatte er sich’s vorgestellt, genauso hatte er‘s gewollt.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein! - Goethe, Osterspaziergang, Penne.
Mein Gott, wie lang war das schon her, eine Ewigkeit.
Da saßen sie nun, seine einstigen Mitstreiter Kneisel und Konsorten, in staubigen Bibliotheken und anderen Studiereinrichtungen, büffelten wie eh und je Mathe und Vokabeln, klecksten mit Tusche Konstruktionszeichnungen auf Pergament und mussten zusehen, wie sie mit den paar mickrigen Kröten Stipendium über die monatlichen Runden kommen.
Er, Holstein, Maat der Volksmarine inzwischen, hatte nicht nur die frische Luft und die See, er hatte auch bedeutend mehr Geld in der Tasche, sechshundert Mark immerhin auf die Hand, inklusive See-, Bord- und anderer Zulagen freilich.
Das musste man erst einmal verdienen da draußen im Zivilen.
Selbst ein frischernannter Diplomingenieur kam in der Regel nettobesehen nicht auf diesen Betrag.
Und da war noch die andere, nicht unerhebliche Seite: Was wussten sie schon, Kneisel und Konsorten, von seinem heroischen Einsatz für Frieden und Sozialismus im Waffenrock der Volksmarine? Bei Lichte besehen trug er, nebst anderen selbstredend, mit dazu bei, dass diese Staubschlucker vor feindlichen Zugriffen geschützt ihrem armseligen Tagwerk nachgehen konnten.
In Kürze würde er, Maat Holstein, auf dem Raketenschnellboot mit dem verpflichtenden Namen „Richard Sorge“, welches momentan noch vertäut in der Kriegswerft zu Tallinn lag, in der Dienststellung des Funkmesswaffenleitmeisters das neue elektronische Rechen- und Steuersystem nebst zweier doppelläufiger, daran gekoppelter 30-Millimeter-Schnellfeuerkanonen übernehmen und an Hand höchster Trefferquoten zum Erprobungsschießen beweisen, wozu eine intelligente Kombination aus Mensch und Technik fähig ist.
Solchen Gedanken nachhängend erbaute sich Holstein am Toben des Meeres, während das Schiff sich langsam, knirschend und ächzend durch die Wellenberge schob und dabei zielstrebig seinem Ziel näherkam.
Der Ehrlichkeit halber muss an dieser Stelle eingefügt und dargelegt werden, dass diese Befindlichkeit Holsteins, wie er sie jetzt angesichts der rauhen See verspürte, ihm nicht stetig und vor allem nicht von Beginn seiner Dienstzeit bei der Marine an zu eigen war, seit er vor annähernd einem Jahr die verblichenen, an den unteren Enden ausgefransten Jeans gegen die wahrlich facettenreichere Montur eines Volksmarinematrosen eintauschte.
Das Theater begann nämlich gleich mit der Ankunft auf dem Bahnhof zu Stralsund, obgleich sich dort das militärische Empfangskomitee wegen eventuell trotz früher Morgenstunde bereits vorhandener ziviler Zeugenschaft noch relativ bedeckt hielt.
Die nach stundenlangen Fahrten, Holstein selbst war über vierundzwanzig Stunden unterwegs, kreuz und quer per Bahntransport durch die Republik Gekarrten wurden mit knappen, in der Lautstärke noch mäßig verhaltenen Befehlen auf die bereitstehenden Militärlastkraftwagen verfrachtet und zur außerhalb der Stadt gelegenen Flottenschule transportiert.
Kaum aber dass die Kolonne in den militärischen Sperrbereich eingedrungen war, und die Kasernentore sich hinter den eben Rekrutierten schlossen, nahmen Lautstärke und Abfolge der Befehle in geradezu beängstigendem Maße zu.
Runter vom Wagen, los, los, und ein bisschen zackig, wenn ich bitten darf! Gepäck aufnehmen! Ruhe dahinten, sonst mach ich Ihnen Beine! Antreten in Linie, marsch, marsch! Was hampeln Sie denn da herum? Linie heißt drei Reihen hintereinander, na das werden wir ja noch üben! Hatte ich etwas von Naseputzen befohlen? Wie heißen Sie denn? Schmidt? Was Schmidt: Oberförster Schmidt, Fünfklässler Schmidt, Hosenscheißer Schmidt? Matrose Schmidt, Genosse Obermaat, heißt das! Wiederholen! Na bitte, klappt doch! Holstein fühlte sich im völlig falschen Film.
Nach und nach zerplatzte an diesem nasskalten, sehr frühen Novembermorgen, an dem er nebst den vielen anderen Neuankömmlingen, noch in Zivil gekleidet und doch schon militärisch völlig vereinnahmt auf dem mit zahlreichen Pfützen bedeckten Exerzierplatz stand, eine Illusion nach der anderen, kaum eine blieb mehr übrig.
Sie zerstoben wie die buntschillernden Seifenblasen im kalten, anlandigen Wind, der hoch oben die dunklen Wolken trieb und unten die Pfützen kräuselte.
Der auf dem Exerzierplatz vor ihnen mit furchterregendem Gebrüll durch die Pfützen patschende Obermaat, hatte mit den Holsteinschen Idolen der roten Matrosen von Kronstadt und Kiel offensichtlich so wenig gemein wie ein Pflasterstein mit einer Mädchenbrust.
Das sollte die ersehnte seemännisch-proletarische Kampfgemeinschaft, getragen von Kameradschaft und gegenseitiger Achtung, sein? Wo war er hingeraten? Wie immer, wenn Holstein sich außerstande sah, ihn bedrängende Prozesse zu beeinflussen, geriet er in gedankliche Hektik.
Die sollte sich noch erheblich verstärken, als sie in ihre Stuben geführt wurden.
Dort erwarteten sie blitzblank gescheuerte Fußböden und akkurater Kojenbau, die blau-weißen Karos von Kopfkissen und Bettbezug exakt nach Länge und Breite ausgerichtet und abgezählt.
Bis zum angedrohten Wecken in knapp zwei Stunden schlüpften alle in die Betten.
Holstein, in Sorge, er könne das Bett kaum wieder in die eben vorgefundene Ausgangslage bringen, legte sich steif auf den Bezug obenauf.
Das war unüberlegt, denn als er gleich den anderen beim durch Mark und Bein fahrenden Trillern der UvD-Pfeife vom Lager schnellte, war dieses dermaßen zerknüllt und zerknittert, dass er Mühe hatte, es nach der dritten Zerstörung durch den pfeifenbewehrten UvD einigermaßen zufriedenstellend zu glätten.
Zum Mittagessen stellte sich alsdann der Hauptfeldwebel der Einheit ein, nachdem sie in den Vormittagstunden schon mit ihren jeweils zuständigen Gruppenführern für die nachfolgende Zeit der sechswöchigen Grundausbildung vertraut gemacht wurden.
Dies waren allesamt Offiziersschüler der Seeoffiziersschule „Karl Liebknecht“, vor einem reichlichen Jahr Abiturienten noch wie Holstein.
Nun aber, im zweiten Lehrjahr zur Offizierskarriere eingebettet, stellten sie ohne Zweifel eine höhere Gattung Mensch dar.
Auch sie, Bändermützenträger wie die legendären roten Matrosen, passten mit ihrem Gehabe nicht ins klassische Holsteinsche Bild von einer kameradschaftlichen, sozialistischen Kampfgemeinschaft.
Sollten Staatsanwalt Gärtner und die anderen doch Recht behalten? In diesem Zirkus, wie er, Holstein, ihn während der ersten Stunden und Tage in der maritimen Waffengattung der Nationalen Volksarmeee empfand, war für ihn, so sah es aus, bestimmt kein Platz, es würde wohl Probleme geben, ganz erhebliche sogar wahrscheinlich.
Holstein beschlich ein zutiefst mulmiges Gefühl.
Der nun dem Mittagessen beiwohnende Spieß ließ erst einmal die frischgebackene Ausbildungskompanie mehrfach in den Speisesaal ein- und ausrücken, da ihn die Schnelligkeit der sich die Treppen ins dritte Stockwerk hinauf und hinab bewegenden Neulinge nicht zu befriedigen vermochte.
Wertvolle Minuten gingen auf diese Weise verloren, die schon bereitgestellten Schüsseln mit tomatensoßen- und reibkäsebeträufelten Makkaroni kühlten merklich ab.
Endlich ließ der Spieß Gnade vor Recht ergehen, sie rückten völlig außer Atem zum letzten Male in den Speiseraum ein, es verblieben ihnen jetzt noch genau dreizehn Minuten, ihre Schüsseln zu leeren.
Während sie hastig die erkalteten Makkaroni in sich hinein stopften, stellte sich der Spieß kurz und knapp vor.
Drei Feuerarten gäbe es in der NVA, Einzelfeuer und Dauerfeuer, soweit so gut und soweit auch bekannt.
Die dritte Feuerart wäre er, der Hauptfeldwebel namens Hinterfeuer, und ein gewaltiges Feuer würde er ihnen unter dem Hintern noch entfachen, sowie er Hinterfeuer hieße.
Während dieser Einführungsrede marschierte er an den Stirnseiten der langen Tische entlang und begutachtete die ihm für die nächsten Wochen anvertrauten Schäfchen.
Was war das denn? Einer der Neulinge stocherte, nur bewehrt mit der Gabel, in der Schüssel herum! Eine Kultur ist das! „He, Sie da! Ja Sie da, der mit der Gabel und dem dummen Gesicht! Wir sind eine zivilisierte Nation, hier wird mit Messer und Gabel gefuttert, verstanden?!“ Der derart barsch in die Schranken der Esskultur Verwiesene errötete stark und setzte die Speiseaufnahme in der befohlenen Weise fort, freilich mit weitaus geringerer Effizienz als vorher, denn er stammte aus einer ländlichen Gemeinde in der Nähe von Demmin, da galt es als gehoben und männlich, in einem Zuge einen viertel Liter Weizenkorn zu leeren, Messer und Gabel waren dabei absolut entbehrlich.
Nachdem Spieß Hinterfeuer Zucht und Ordnung fürs erste in hinreichendem Maße glaubte durchgesetzt zu haben, stiefelte er zu einem den Ausbildern und der Stammbelegung vorbehaltenem Tisch, entnahm der Innentasche seiner Uniformjacke einen Löffel, wischte diesen am Ärmel ab und begann, mit außerordentlich hoher Frequenz die Makkaroni in sich hineinzuschlingen.
„Marine-Rundschlag“, so lernte Holstein alsbald die Umschreibung für eine solche Art Esseneinnahme kennen.
Alles in allem sah sich Holstein nach drei Wochen am NVA-Standort Stralsund in einer bösen Falle.
Die den revolutionären Matrosen von 1917 und 1918 äußerlich so ähnlich sehenden Ausbilder, in der Regel Meister und Obermaate der Stammbelegschaft der Flottenschule, entpuppten sich mehrheitlich als üble Schleifer.
Statt sozialistischer Soldatenromantik war teilweise übler Barras angesagt, wie er ihn aus „08/15“ und gleichermaßen einschlägiger Literatur herausgelesen und den spärlichen väterlichen Kriegsberichten entnommen hatte.
Die sechs Wochen bis zum Ende der Grundausbildung verliefen nach dem Muster: Explatz – Küchendienst – Waffenübungen am Ort mit und ohne Seitengewehr – Gefechtsübungen im Gelände – Dienstvorschriftenkunde – Schulschießen - Waffenreinigen – Explatz – und wieder vorn beginnend.
In einer der ersten Dienstkundestunden, gehalten vom Kompaniechef persönlich, nahm Holstein erst ziemlich überrascht und dann hochgradig verstört zur Kenntnis, dass ihnen, den neueinberufenen Angehörigen einer sozialistischen Armee ab jetzt jeglicher Kontakt zu Personen im kapitalistischen Ausland aufs strengste und bei Strafe verboten sei.
Das hieß für ihn aus und vorbei mit Angelika aus Pforzheim, so prächtig sich die Dinge auch entwickelt hatten.
Zu ihrem diesjährigen Besuch hatte er ihr einen Riesenstrauß Blumen aus der nahegelegen Gartenkolonie zusammengeklaut und per Mundharmonika mehr schlecht als recht ein Ständchen dargebracht: La paloma natürlich zuerst, gefolgt von den hundert Mann mit dem einem Befehl.
Am darauffolgenden Tag lagen sie bis spätabends am Steinbruchsee.
Die plötzlich per Dienstanweisung befohlene Trennung von ihr tat ihm weh, war jedoch, bei hellem Lichte besehen, und wie die Dinge nun einmal lagen, vielleicht auch so am besten: Er würde niemals in den Westen gehen, sie niemals in den Osten zurückkehren.
Mögliche Freiräume, auch solche in den Abendstunden, wurden gefüllt mit Nadelarbeit.
Jedes Kleidungsstück, und derer gab es im großen Seesack der Rekruten jede Menge, beginnend bei den drei Kieler Ex-Kragen bis hin zu den fünf Paar schwarzen Socken, dazwischen jede Menge Unterwäsche, Pullover, Arbeits- und Freizeituniformteile, wollte mit dem Namen des jeweiligen Besitzers versehen sein, handsticklich, rotes Garn.
Holstein quälte sich redlich, hätte in diesen schaurigen Momenten lieber Hinz oder Kunz geheißen, aber besser noch Gert Holstein als Hans-Ulrich Knickenbold.
Viele Jahre danach, längst schon wieder in zivilen Jacken und Hosen, fand er ab und zu im Kleiderschrank nach eine Socke oder ein Unterhemd, gekennzeichnet mit den runenartigen roten Stickzeichen.
Hin und wieder tobte auch ein Gewitter menschlicher Natur in die Stuben, gerade dann, wenn die Freiräume auch nicht mehr mit Stickarbeiten gefüllt waren und so Zeit für Skat oder Briefeschreiben blieb.
So gefiel sich dieser oder jener der Ausbilder schon ab und zu in seiner gottgleichen Rolle, wenn er alkoholgeschwängert aus der Kantine kam und in den Stuben der Rekruten noch Licht sah.
Am beliebtesten bei den Ausbildern stellten sich dabei die Spielarten „Maskenball“ und „Feueralarm“ heraus.
Während beim Maskenball auf Befehl des Ausbilders eine schier unendliche Anzahl von Uniformdarstellungen durch die vom abendlichen Unglück betroffenen gegeben war, beginnend beim Bord-blau über das Bord-weiß, dann wechselnd zum Trainingsanzug und von diesem überleitend zum Kampfanzug mit und ohne aufgesetzter Schutzmaske, den Reigen beschließend mit zweiter Geige, erster Geige und als Krönung des Ganzen die erste Geige mit weißer Ex-Bluse, alles freilich in wenigen Minuten zu erledigen und dann wahlweise den Zyklus in ähnlicher Form wiederholend, um fünf Minuten vor dem Befehlsruf, unterstützt vom Trillern der Pfeife, „Nachtruhe – Licht aus!“ die militärisch wohlgeordneten Spinde vorzuweisen, ging es beim „Feueralarm“ durchaus einseitiger zu.
Nach entsprechendem Alarmruf des den Spuk veranlassenden Ausbilders stopften alle ihre Habseligkeiten in die Seesäcke, den Stahlhelm obenauf, und schleppten diese dann zum Stellplatz.
Der Ausbilder kontrollierte sodann die personelle und die materielle Vollzähligkeit, die materielle in der Form, dass er stichprobenartig diesen und jenen Seesack auf dem Stellplatz entleeren ließ, unabhängig davon, wie sich die Beschaffenheit des Platzes jeweils gestaltete.
Dann befahl er den Delinquenten noch ein, zwei Runden Laufschritt, mit aufgenommenem Seesack versteht sich, um den Platz und ordnete endlich die wohlverdiente Nachtruhe an, nicht ohne sich vor dem endgültigen Abschalten des Lichts über den Zustand der ordnungsgemäß wieder eingeräumten Spinde informiert zu haben.
Unterhaltsam für die Ausbilder bot sich des weiteren an, den erreichten Reinlichkeitsgrad der Stuben nach dem wöchentlichen Großreinschiff in den Vormittagstunden der Samstage in der Art zu kontrollieren, dass die beiden die Stube zur Ronde abmeldeten Matrosen hübsch gekleidet in Bord-weiß gegenläufig unter den stählernen Doppelbetten auf dem Fußboden entlangglitten.
Inwieweit der Sauberkeitszustand den Erwartungen des Rondenführers entsprach, ließ sich nach Erreichen der Zielgerade vor des Ausbilders Stiefelspitzen vor allem an den Ellenbogen und Knien der vor ein paar Minuten noch weißgekleideten Saubermänner zuverlässig ablesen.
Geradezu albern fand Holstein das immer wieder an den Maschinenpistolen exerzierte Auseinandernehmen und Zusammenbauen.
Selbst im Rahmen von Wettstreiten, hier zumal mit verbundenen Augen, wurde dieses Ritual geübt.
Niemals zuvor hatte Holstein davon gehört, in Filmen gesehen oder in Büchern gelesen, dass vom schnellen, sogar eventuell blind vollzogenem Aus- und Einbau der Zubehörteile von Schießgerät aller Art der Ausgang von Schlachten und Kriegen abhing.
Ihm schienen diese Verrichtungen mehr und mehr dort angesiedelt zu sein, wenn auch militärisch verbrämt, wo auch das Einsticken der Namenszüge in ihre Kleidungsstücke hingehörte.
Die Abschlussübung aller Ausbildungskompanien fand dann in der Mitte des Dezember statt.
Sie führte die in fleckigen, den Farben der Natur nachempfundenen Kampfanzügen ausrückenden Einheiten nach Gefechtsalarm in aller Herrgottsfrühe, jeder einzelne von ihnen behangen mit Sturmgepäck Teil eins, eingerollter Zeltbahn, Feldspaten, Schutzmaskentasche, Schutzumhang, Feldflasche, Kochgeschirr und Maschinenpistole Kalaschnikow nebst Magazintasche, in das fünfzehn Kilometer entfernte vom nassen Schneefall heimgesuchte Übungsgebiet.
Nach bewährter Manier rannten, krochen und sprangen sie über den Acker, sich stets nach eingestreuten Kommandos wie „Panzer von links!“ oder „Tiefflieger von vorn!“ so gut es ohne negativ dabei aufzufallen eben ging im Schlamm in Deckung bringend.
Holstein würgte während des Robbens über den schlammigen Gefechtsacker seinen gesamten Mageninhalt aus sich heraus, den hatte er knappe dreißig Minuten vorher erst aus der Feldküche abgefasst.
Spätabends zogen sie zur Kaserne zurück, die letzten fünf Kilometer unter vollständiger Schutzbekleidung mit aufgesetzter Gasmaske im Eilmarsch.
Die Ausbilder, vom Ballast der genannten Art befreit und vorsorglich mit an den Stiefelsohlen befestigten Antirutschstreifen ausgerüstet, trieben mit harschen Befehlen zur Eile, während die Rekruten auf den eisigen Straßen und Wegen schlitterten, ausglitten und mit all ihrem militärischen Behang hinschlugen.
Erst kurz vor der kleinen Ortschaft unmittelbar vor dem Kasernentor kam dann der erlösende Befehl zur Entwarnung vor radioaktiven und chemischen Kampfstoffen.
Sie verpackten die Schutzanzüge, fanden sich erneut zur Marschformation und stapften durch frisch gefallenen Schnee der Unterkunft entgegen.
„Ein Lied!“, kommandierte der Kompaniechef.
Er ließ den Titel diesmal offen, die Rekruten sollte ihn sich selbst auswählen dürfen.
Dann sangen sie erfahrungsgemäß, erschöpft wie sie nach dem langen Ausbildungstag im Gelände auch immer waren, mit größerer Begeisterung.
„Spaniens Himmel“, „Ein Heller und ein Batzen“, „Schwarzbraun ist die Haselnuss“ schallten die Vorschläge aus den Reihen der in der Dunkelheit Dahinziehenden.
Letztendlich setzte sich die schwarzbraune Haselnuss durch und so zogen sie, nochmals mit letzter Kraft beseelt, völlig verdreckt und verschwitzt, aus allen Löschern und Ritzen ihrer Kampfanzüge stinkend wie Waldesel, trotzdem laut singend über die von niedrigen Backsteingehöften gesäumte kopfsteinige Straße.
Die Dorfbewohner nahmen davon keine Notiz, Gesangsvorträge vorbeiziehender Matrosen kannten sie längst aus dem ff, die Liedertexte waren ihnen weitläufig vertraut, unwesentlich dabei, ob es sich um kolonnenförmig kommandierte oder vom Landgang zurückkehrende alkoholisierte Angehörige der Volksmarine handelte.
Nach der sechswöchigen Grundausbildung setzte die spezialfachliche Ausbildung ein, säuberlich getrennt nach Mannschafts- und Unteroffizierslaufbahnen.
Holstein verschlug es zu den Funkmessern, den Radarspezialisten.
Hier lernte er in den nächsten zehn Monaten das System RIS bedienen, ein Artilleriekomplex bestehend aus zwei doppelläufigen, trommelgeführten Schnellfeuergeschützen sowjetischer Bauart, gesteuert von einem elektronischen Rechner, der die Signale der angeschlossenen Radarstation und des Kreiselkompasses zu Richtwerten für die Geschütze umwandelte.
Daneben lief freilich in dieser Zeit auch die infanteristische Ausbildung auf dem Ex-Platz und im Gelände weiter, nicht mehr so oft und mit so viel Krakeel wie in den ersten Wochen, vielleicht aber hatten sie sich daran auch schon gewöhnt.
Holstein jedenfalls fiel es zunehmender leichter, die Verhältnisse zu ertragen, die wechselseitige Ausbildung machte ihm jetzt zusehends Spaß.
War nicht ein deutlicher Unterschied zur Grundausbildung zu spüren? Nicht mehr lange hin, da würde er in der Flotte auf einem Schiff seinen Dienst versehen, dann hatten auch endlich Stahlhelm und Sturmgepäck ausgedient.
Zum Ende des ersten Ausbildungshalbjahres fand die Versetzung der Mannschaftsdienstgrade in die Flotteneinheiten statt, die für die Unteroffizierslaufbahnen vorgesehenen Vierjährigverpflichteten wurden von Matrosen zu Unteroffiziersschülern ernannt und rückten erst einmal statt wie bisher in die Ausbildungsräume jetzt in die Wachlokale ein.
Bis die Neueinberufenen nach Grundausbildung und Wacheinführung standfest waren würden sie, die nunmehr „alte Hasen“, allein Wache schieben und zwar im Rhythmus ein Tag Wache – ein Tag Bereitschaft – ein Tag frei.
Vom regulären Dienst wie gewohnt nun plötzlich befreit, zerbröselte die mühsam errichtete militärische Disziplin und Ordnung bei den Wachsoldaten auf Zeit binnen weniger Tage.
Nur zum Wachdienst selbst rissen sie sich wie bisher zusammen.
Auch trugen die Verhaltensmuster der altgedienten Maate und Matrosen des Hafenkommandos und die Stammbesatzungen der im Hafen für Schulungszwecke liegenden Minenräumboote nicht gerade zu Erhaltung militärischer Tugenden bei den wacheschiebenden Unteroffiziersschülern bei, im Gegenteil.
Der Befehl des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR zum vollständigen Alkoholverbot in allen Dienststellen der NVA war noch nicht in Kraft, die meisten ahnten nicht einmal davon.
Er sollte in wenigen Wochen die Armeeangehörigen aller Dienstgrade schlimmer treffen als die erhöhte Gefechtsbereitschaft zu Zeiten der Kubakrise.
Noch aber flossen Bier, Wein und Schnaps reichlich, sowohl in der Kantine, einem Holzschuppen gleich hinter dem Kasernentor, als auch auf den Unterkünften der jungen Seeleute.
Holstein und Pohler, vor zwei Stunden standen sie noch wechselseitig am nördlichen Torpedobunker auf Wache, marschierten strammen Fußes auf der asphaltierten Objektstraße am großen Exerzierplatz vorbei in Richtung Kantine.
Den ihnen in der abendlichen Dämmerung entgegenkommenden Ausbilder, ein Maschinen-Obermaat der Stammbelegschaft übersahen sie dabei geflissentlich, was der sich freilich von den beiden Schlipsen nicht bieten ließ.
Die Finger noch krumm vom Koffertragen, die Litze um den Kolanickragen noch nicht verdient, aber ein Benehmen wie altgediente Flottenhengste! „Sie können wohl nicht grüßen, was?!“, herrschte er sie erbarmungslos an.
„Ab, zurück, und zwar dalli!“ Sie trabten also auf das Geheiß des Obermaaten bis diesen das alberne Spiel selbst langweilte noch fünfmal an ihm vorbei, jetzt jedesmal stramm die Hände an die Bändermützen reißend.
„Arschloch!“, vermeldete Pohler, nachdem der Obermaat eine abhörsichere Distanz erreicht hatte.
Sie erreichten die Kantine ohne weitere Störung.
Stickige, nach Tabak, Schweiß, Speisedunst und Urin riechende Schwaden umhüllten sie sofort, den ohrenbetäubenden Lärm hatte sie schon draußen vernommen.
Holstein und Pohler quetschten sich durch die teilweise trotz der noch frühen Stunde schon reichlich Alkoholisierten und fanden schließlich ganz hinten einen gerade frei werdenden Platz.
Der darauf vorher gesessen hatte, wurde gerade von seinen Saufkumpanen mit lautem Gebrüll abtransportiert.
Sie stülpten ihm die Mütze, welcher der Bezug fehlte, verkehrt herum auf den Kopf, so dass ihm die schwarzen Seidenbänder vor dem von einer dümmlichen Grimasse durchzogenen Gesicht hingen und die Bänderinschrift „Volksmarine“ nach hinten zeigte und verluden ihn alsdann in eine über und über mit Zement verkrustete Schubkarre.
Ein Dienstgradabzeichen konnte Holstein am linken Ärmel des in der Karre Röchelnden nicht ausmachen.
Er sah es wenig später, offensichtlich abgefetzt, in der Neige eines nicht ganz geleerten Bierglases, welches neben den unzähligen anderen noch auf dem Tisch stand, schwimmen.
Stabsmatrose, wahrscheinlich einer der übermorgen zur Entlassung aus dem aktiven Dienst Anstehenden.
Noch eine ziemliche Weile hörte man durch die halb offene Tür das Gegröle der „schwer mit den Schätzen des Orients Beladenen“ in Richtung Hafen abziehenden Meute, dann, als ihnen mutmaßlich der Text ausging, den Schlachtruf „EK, EK, EK, bald sind wir nicht mehr da!“, mehrstimmig dargebracht nach der eingängigen Melodie des Schlagers „Mitsu, Mitsu, Mitsu, komm doch zum Rendezvous“ Holstein und Pohler, der mittlerweile einen weiteren Stuhl herangeschleppt hatte, bestellten wie üblich „Hamburger Schnitzel“ mit soviel Bratkartoffeln, dass diese über den Tellerrand kleckerten.
Sie genehmigten sich noch jeweils zwei große Bier und drei kleine Schnäpse, dann machten sie sich wieder aus dem Staube.
Erfahrungsgemäß konnte die Kantine zu späterer Stunde zur Hölle ausarten.
Erst vergangene Woche gab es einen heftigen Streit mit der herbeigerufenen Wache, der dann in eine kräftige Keilerei mündete.
Am Ende wurden alle noch in der Kantine Verbliebenen von der zahlenmäßig weit überlegenen und im Vollbesitz ihrer geistigen und körperlichen Kräfte befindlichen Wachmannschaft ziemlich unsanft über die Bordwände eines LKW W-50 verfrachtet und zwecks Ausnüchterung für die kommende Nacht in den Arrest gesteckt, immer acht Mann in die höchstens für vier Personen gedachten Zellen.
Als Ursache des Herbeirufs der Wache durch die weiblichen Küchenkräfte der Kantine an diesem Abend agierte ein Obermaat, der sturzbetrunken und nicht mehr Herr seiner Sinne, vor aller Augen den Latz seiner Klapphose öffnete und fallen ließ und dann unter lautem Johlen der Umstehenden und Umsitzenden versuchte, seinen schlaffen Penis auf den Tresen zu legen.
Da es ihm nur bedingt mit Müh‘ und Not gelang, sich auf den Beinen zu halten, griff er mit der linken Hand zum Zapfhahn, augenscheinlich in der Absicht, dem angestrebten Vorhaben eine stabile Grundlage zu verleihen.
Der Zapfhahn jedoch war der ungewohnten Belastung nicht gewachsen und riss ab.
Als Folge dessen ergoss sich in schäumendem Strahl literweise Bier über den Obermaat und die Umstehenden, was das allgemeine Johlen erheblich verstärkte.
Holstein und Pohler widerstanden der Versuchung, noch ein paar Pullen Bier mit in die Unterkunft zu nehmen, denn das war laut Dienstreglement strengstens untersagt.
Das Reglement an sich hätte sie nicht besonders geschert, so weit waren sie schon gediehen in ihrem gelockerten Verhältnis zu Dienstvorschriften, jedoch stand zu vermuten, dass alsbald eine erneute Spindkontrolle angesagt war, unangemeldet selbstredend und nicht ohne Grund, wie wir gleich sehen werden.
Gerhard Eibner, seines Zeichens frischernannter Unteroffiziersschüler und Stubenkamerad von Holstein und Pohler, kehrte am Mittwoch der vergangenen Woche vom Wachdienst in die Unterkunft zurück.
Auf der Stube befand sich außer ihm niemand, so öffnete er seinen Spind, der mit allerlei ungeordnetem Plunder sowie leeren und vollen Bierflaschen bis zur Hälfte gefüllt war und zog erst einmal einen kräftigen Schluck aus der Pulle.
Dann nahm er sich wie geplant seine Urlaubsmütze vor.
Einen gestandenen Flottenhasen erkennt man nämlich sogleich an der Mützenform: kreisrunder Bezug mit darin steil aufgerichtetem Steg bezeugt ungedienter Rotarsch, gezogener ovaler Bezug ohne Steg dagegen verheißt langwährende Dienstzeit, wenn nicht gar baldige Reserve.
Während der Landgänge in der Garnisionsstadt Stralsund durfte man sich freilich mit einer auf solche Weise verformten Mütze nicht erwischen lassen, nicht von der Militärstreife und nicht von Vorgesetzten jedweder Art, Offiziersschüler darin eingeschlossen.
Im Urlaub jedoch, in den fernen, mit den Bekleidungsvorschriften der Volksmarine nicht sonderlich vertrauten thüringischen und sächsischen Dörfern, konnte das gute, jedoch wider den geltenden militärischen Vorschriften gänzlich verformte Stück ans Licht gebracht und mit allem gebotenem Stolz auf dem Kopf herumgeführt werden.
Fast jeder von Holsteins Kameraden präparierte also, gesetzmäßig geradezu, für den bevorstehenden einwöchigen Urlaub in genannter Weise eine zweite Mütze.
Diese Zweitmützen würden vorerst klammheimlich ins Reisegepäck verstaut, spätestens aber in Höhe der Bahnstation Anklam wieder daraus hervorgeholt und gegen die gehassten kreisrunden eingetauscht werden.
Eibner hatte diesbezüglichen Nachholebdarf.
Während der weiße Mützenbezug zwecks besserer Verformung noch im Wasserbad lag, riß er schon einmal den Steg aus dem Mützenring und erklomm dann eine Hocker, um den drahtigen Spannring, den er unter dem Sturmgepäck auf dem Spind versteckt hielt, herauszuholen und für die notwendige Spannung des Bezugs vorzubereiten.
Den bereits malträtierten Mützenring hatte er derweil aufgesetzt.
Just in diesem Augenblick betrat der Kompaniechef die Stube.
Das war im Grunde genommen völlig abwegig, denn der Ko-Chef hatte sich seitdem die in der Einheit verbliebenen Unteroffiziersschüler zum Wachdienst abkommandiert waren, kaum, um nicht zu sagen, überhaupt nicht mehr um die trivialen Obliegenheiten der Einheit gekümmert, wozu hatte er dafür seinen Hauptfeldwebel.
So war die Überraschung perfekt, auf beiden Seiten.
Eibner hatte den Ko-Chef nicht erwartet, der nicht Eibner, den schon gar nicht in dieser Aufmachung.
Letzterer war auf dem Schemel in Habachtstellung zur Salzsäule erstarrt, den Mützenring mit den hinten herabhängenden Bändern ohne Bezug auf dem Kopf.
So standen sich beide gegenüber, vorerst sich schweigend fixierend, Eibner in etwas erhöhter Position.
Dann aber brach’s aus dem Kompaniechef, den man in der Flottenschule allgemein unter dem Spitznamen der „letzte Preuße“ kannte, denn er galt als gnadenloser Asket, der auch bei härtesten winterlichen Bedingungen die elf Kilometer von seiner Wohnung zur Dienststelle mit dem Fahrrad zurücklegte, heraus: „Geben Sie die Mütze her, aber fix.
Und dann scheren Sie sich endlich von dem Schemel herunter!“ Er riss dem vom Schemel herabsteigenden Eibner den Mützenring aus der Hand und stülpte ihn, nachdem er seine eigene Dienstmütze abgesetzt hatte, sich selbst auf den Kopf.
„Und das finden Sie schön?“, donnerte er zu Eibner und baute sich in fragender Haltung vor diesem auf.
Der Befragte zuckte die Schultern.
Was sollte er auch schön finden an dem vor ihm stehende Kapitänleutnant Schäfer mit dem lächerlichen Kopfputz, aus dem sich oben die allmählich erkahlende Platte schimmernd herauswölbte.
Sah er doch aus wie der alternde Winnetou, dem man die Federn aus dem Hut geklaut hat.
Kaleu Schäfer erkannte rasch die Peinlichkeit der Situation.
„Die Mütze behalte ich ein! Und nun machen sie mal Ihren Spind auf.
“ Eibner zog langsam, wissend um die Folgegeschehnisse, vorsichtshalber ein Bein vor die sich gleich öffnende Tür stellend, die Verriegelung zurück.
Allein, das vorgestellte Bein erwies sich wirkungslos gegenüber der Masse der aus dem Spind quellenden Utensilien.
Zwischen lose hineingestopften Uniform- und Ausrüstungsstücken rutschten und kullerten mit Geklirr und Gescherbel die von der Beengung im Spind befreiten leeren und vollen Bierpullen dem Ko-Chef vor und um die Füße.
Das war dem zuviel des Guten.
„Sie räumen jetzt sofort diesen Saustall auf, und zwar ratzbatz und picobello, anschließend melden Sie sich beim Spieß! Wie ich den kenne, wird er noch jede Menge Zylinder in der Toilette für Sie zur Säuberung vorrätig haben.
Und wehe Ihnen und Ihren Stubengenossen, ich finde je wieder auch nur eine leere Flasche Bier auf der Unterkunft! Dann Gnade Ihnen der liebe Gott!“ Der Ko-Chef hatte mit dem lieben Gott bekannterweise recht wenig im Sinn, aber Eibner verstand sehr wohl die Drohung.
Mit kurzfristigen Nachkontrollen war zu rechnen, wenn nicht durch den Ko-Chef selbst, dann durch den von ihm beauftragten Spieß.
Der war zwar, wie man es landläufig ausdrückte, dumm wie ein Sack Russen, dafür aber um so gefährlicher.
Solchermaßen lagen also die Dinge, als sich Holstein und Pohler aus der Kantine zurück zu ihrer Unterkunft begaben und auf die Mitnahme alkoholischer Getränke verzichteten.
Im Juni des Jahres 1966 trat Holsteins Ausbildungszug den lang erwarteten einwöchigen Heimaturlaub an.
Die mehr als zehnstündige Heimreise wollte und wollte nicht vergehen, dafür die Rückfahrt um so schneller.
Zu Hause traf er keinen seiner ehemaligen Freunde an, auch nicht am Steinbruchsee.
Sie waren mittlerweile fast allesamt in festen Mädchenhänden und hatten für ihn keine Zeit.
Kneisel, dem er zufällig in der Stadt begegnete, schien es eilig zu haben, es wäre die Abgabe der Konstruktionszeichnung eines dreistufigen mechanischen Getriebes fällig, na gut, wenn’s denn unbedingt sein muss, auf ein Bier, keinesfalls aber mehr, Holstein möge die Zeche inzwischen auslegen.
Sie fanden nicht recht zueinander, hatten sich wenig zu sagen, die einstige Vertrautheit schien gebrochen, zu weit schon waren ihre nunmehrigen Lebensumstände verschieden.
So war Holstein am Ende froh , wieder in der Truppe bei seinen Kameraden zu sein.
Nach einem vierwöchigen Seepraktikum auf den im Hafen der Flottenschule liegenden Räumpinassen, hier tätowierten sie sich im ausreichend mit Alkohol narkotisierten Zustand gegenseitig Anker, Navigationssterne, Seemannsgräber und Herzen in Ober- und Unterarme, schlossen sie mit diversen Fachprüfungen und einer großangelegte Abschlussübung im Gelände nebst Schießübungen mit der Kalaschnikow und scharfem Handgranatenwerfen den Lehrgang ab.
Die Ernennung der Unteroffiziersschüler zu Maaten und ihre Aufteilung auf die Flottenverbände erfolgte im September.
Holstein wurde der 1.
Raketenschnellbootsabteilung der 6.
Flotille in Dranske auf Rügen zugeteilt.
Von diesem Ort hatte er in seinem bisherigen Leben noch nie gehört, er sollte nun für viele Jahre sein Zuhause werden.
Man hatte sie am Stabsgebäude des Standortes Bug aus den Bussen geladen und in Empfang genommen.
Eibner wurde der Torpedoschnellbootsbrigade zugeteilt, Pohler hatte es schon vorher zu den U-Jägern der 4.
Flottille nach Peenemünde verschlagen.
Mit geschulterten Seesäcken stapften sie zu dritt, neben Holstein ein Funkmaat und ein Maschine-E-Maat, unter der Führung eines sie begleitenden Obermeisters schweißüberströmt in der gleißenden Nachmittagssonne dem Hafen entgegen, dort vorbei an der Torpedoboot-Slipanlage, passierten den Posten am Beginn der Pier, an der päckchenweise an den drei Wohnschiffen vertäut die Raketenboote im silbrig glänzenden Wasser tänzelten, und wankten endlich unbeholfen über die Stelling eines der drei Wohnschiffe.
Von den dort lässig über die Reling der oberen Aufbauten lehnenden, zumeist in der Arbeitskluft Bord-blau steckenden Mannschaften wurden sie schon gebührend begrüßt: „Ach, sieh an, die neuen Schlipsmaate sind eingetroffen.
“ Vorerst quartierte man sie zu den bereits am Vortag eingetroffenen Jungmaaten in einer der im unteren Verkehrsgang des Wohnschiffes liegenden Zwölf-Mann-Mannschafts-kammern ein.
Jeweils drei Kojen übereinander angeordnet, dazwischen schmale Gänge, unter den beiden mit Vorreibern wasserdicht verschließbaren Bulleyes eine schmale Sitzbank, davor die schmale, abklappbare Back, diese umringt von einer Reihe von Schemeln.
Es müffelte streng.
Holstein quetschte sich in eine der untersten, noch freien Kojen, ihre Seesäcke standen vor dem Schott zur Kammer, die hätten unausgeräumt überhaupt nicht mit in die Kammer gepasst.
Aufgeteilt auf ihre Besatzungen würden sie dann eine der etwas komfortableren Unterführerkammern, belegt mit jeweils sechs Mann, die sechs Kojen lediglich doppelt übereinander, auf dem oberen Verkehrsgang des Wohn- und Versorgungsschiffes der Schulbootsabteilung, genannt „Platsch“, beziehen.
Alsbald stellte sich heraus, dass Holsteins Boot, die „Richard Sorge“, schon seit Monaten im estnischen Tallinn lag, zu Beginn des Winters sollte es nach erfolgter elektronischer Zurüstung nach Deutschland rückgeführt werden.
Dann würde das Seegefechtstraining in der Schulbootsabteilung, zu der die „Richard Sorge“ seit Beginn des neuen Ausbildungshalbjahres gehörte, einsetzen.
Rollentraining und Bootsgefechtsübungen auf See, zumeist aber im Hafen und würden ihren Alltag bestimmen, der nach dem Signalton sechs Uhr morgens mit Ein- bis Dreitausendmeter-Läufen zum Frühsport begann und sich mit dem Befehl des Bootsmanns der Wache „Nachtruhe, Ruhe im Schiff, Licht aus!“ zweiundzwanzig Uhr rundete.
In der ersten Dezemberwoche wurden die zwei Besatzungen der aus Tallinn zu überführenden Raktenschnellboote in Saßnitz auf das Rettungsschiff R11 eingeschifft und damit in Richtung Estland in Marsch gesetzt.

Sie erreichten die baltische Hafenstadt total vereist am frühen Nachmittag, da begann es bereits wieder zu dämmern.
Schon gegen sechzehn Uhr lag finstere Nacht über dem mäßig beleuchteten Hafengelände.
Die Neuankömmlinge wurden freudig erwartet begrüßt, die meisten kannten sich.
Holstein bezog im mit acht Mann belegten Unterführerdeck steuerbordseitig die vordere, obere Koje.
Die aufgelegte Matratze diente sinnigerweise auch als Rettungsmittel, zu diesem Zweck war sie im schweren Segeltuch mit kleingestückeltem Kork gefüllt.
Das Innere des Kampfbootes sowjetischer Bauart war entsprechend den Normen eines unter Kriegsbedingungen schnell verschleißenden Kampfmittels auch im Unterführerdeck karg ausgestattet: winzige blecherne Spinde, Kabelbahnen und Rohre für Wasser und Dampf unverkleidet an den stählernen Wänden verlegt, die beiden Schotten mittels schwerer Vorreiber wasserdicht verschließbar.
Ins Deck hinein wölbte sich ein Teil des unteren Geschützturmes, darin lagerten gewöhnlicher Weise nach linkem und rechtem Geschützrohr getrennt je fünfhundert Schuss gegurteter 30-Millimeter-Munition für die Bugwaffe.
Das vordere Schott im Deck verbarg den Toiletten- und Waschraum, ausgestattet mit einer handpumpenbetrieben Toilette, einer Dusche und einem elendig kleinen Waschbecken.
Diese Sanitärzelle war der Nutzung aller Unterführer- und Mannschaftsdienstgrade anheim gestellt, nur die Offiziere verfügten in ihrem Deck unterhalb der Brücke über ein eigenes Waschbecken und eine eigene Toilette, zum Duschen allerdings mussten auch sie zum Bugwaschraum.
Zu Zeiten, wenn die Umstände es erforderten, fanden sich im Bugwaschraum alle drei Stationen gleichzeitig besetzt: während einer hinter dem Plastik-Vorhang duschte und sich einer über dem Waschbecken die Zähne putzte, pinkelte ein dritter ins Klo.
Sie standen bei der Verrichtung ihrer doch sehr unterschiedlichen Tätigkeiten dabei so dicht beieinander, dass sie Obacht geben mussten, sich nicht gegenseitig ins Gehege zu kommen.
Die Abendbrotzeit rückte heran, Backschafter schleppten Brot, Wurst, Butter und Käse herbei, zu Ehren der Neuankömmlinge gab’s auch eine Riesenportion Rührei.
Die Neuankömmlinge futterten, was das Zeug hielt, hatten die meisten von ihnen doch seit Tagen nichts mehr aufgenommen sondern nur noch abgegeben.
Das Rührei freilich war eine Schummelpackung: Da sich die Besatzung bereits mehrfach beschwert hatte, dass das Rührei immer farbloser würde, hatte der Smut zu einer List gegriffen.
Er mischte jetzt Teile gelben Vanillepuddingpulvers unter und setzte gleichmengig etwas mehr Salz und Pfeffer zu, die Mannschaft war’s zufrieden.
Welche Schuld trug er, der Smut, auch an der zunehmend blasseren inneren Beschaffenheit der von den schmuddeligen Märkten neben der Werft besorgten baltischen Hühnereier! Dann gab’s noch eine Überraschung, zumindest was die gerade hinzugestoßenen Manschaftsteile anbelangt: Aus den Bordlautsprechern erklangen deutsche Laute und deutsche Musik, etwas verrauscht zwar wie einst Camillo Felgens Hitparaden bei Radio Luxemburg, aber immerhin.
Oberleutnant Ziesel, Erster Wachoffizier und Gehilfe des Kommandanten, den Kommandanten im fernen Land vertretend, seit acht Monaten und viel zu lange schon von Weib und Kind getrennt, hatte zu seinem Trost und der Truppe Erbauung veranlasst, dass der Funker zu den gemeinsamen Abendessen den Radioempfang auf deutsche Welle Köln einstellte und über die Lautsprecher in die Decks leitete.
Vor Wochen erreichte sie über diesen Sender sogar ein Gruß aus der Heimat, West oder Ost, das war ihnen allen in diesem Moment schnuppe.
Gegrüßt wurden die deutschen Matrosen, die seit Monaten schon mit ihren Booten in baltischen Häfen lagen.
Das fanden die Gegrüßten nobel und toll.
Für den Gehilfen des Kommandanten Ziesel allerdings gab‘s diesbezüglich zu Hause ein disziplinarisches Nachspiel, welches den mit all seinen Fasern dem Meer verschriebenen Seeoffizier von dieser Leidenschaft befreite.
Eine Weile nach dem Abendbrot, die Gärgase bedurften zu ihrer ausreichenden Entfaltung die chemisch bedingte Zeit, kam es im winterlichen, stetig dunklen Tallinn nunmehr zu einer traditionsgewordenen Theatervorstellung im Mannschaftsdeck.
Offiziere und mehrheitlich auch Unterführer wohnten den Aufführungen nicht bei, unternahmen aber auch nichts dagegen.
Zwei, wie sich im Verlauf der Zeit herausstellte, besonders dafür geeignete Kandidaten ließen ihre Hosen herunter, legten sich bäuchlings auf jeweils eine Koje und begannen dann mit aller Raffinesse und der ihnen eigenen Kunst, ihre Darmluft in den Raum auszustoßen.
Bei jedem größeren dieser Schübe hielten eigens bereitstehende Deckgenossen ein brennendes Streichholz an die Ausstoßstelle, die Methan-Gase entzündeten sich unter lautem Gejohle, fuhren bläulich empor und wurden flugs vermessen.
Zunehmend verbreitete sich ein fürchterlicher Gestank im Deck.
Die Mannschaften benannten dieses Spektakel „Abfackeln“, Obermaat Lehnert, Abiturient wie Holstein und Leiter der Raketenrechenzentrale, bezeichnete den Klamauk als „geschmacklose atavistische Afterkunst“.
Die Erprobungen der neuinstallierten Waffensysteme verliefen auch beim scharfen Schießen auf Luft- Seeziele erfolgreich, drei Tage vor dem Heiligabend 1966 kehrten die Boote am Schlepphaken nach Deutschland zurück, gerade noch rechtzeitig, denn zwei Tage später war die Hafenzufahrt nach Tallinn restlos zugefroren, erst im Mai des Folgejahres sollte die See wieder eisfrei sein.

II Prorer Wiek, Frühsommer 1968.
Nervenzerreißend schrillte die Alarmglocke dreißigsekündig durch die Decks.
Gefechtsalarm! In den zur frühen Morgenstunde in sanfter Dünung vor Anker liegenden Booten erwachte rasch emsiges Treiben.
Die Freiwächter sprangen von ihren Kojen in Stiefel oder Bordschuhe und zwängten sich schnell aber geordnet durch die Decks und Niedergänge zu ihren Gefechtsstationen.
Holstein schwang sich hinter Lehnert den Niedergang abwärts ins Kombüsendeck, schob Lehnert noch durchs Luk in die Raketenleitzentrale, verriegelte die Vorreiber, öffnete das Schott zum Waffenleitstand, stülpte die Kopfhörer über, schnallte das Kehlkopfmikrophon um und meldete die Gefechtsstation an die Brücke besetzt.
Noch während er die Geschützaggregate der Bug- und Heckwaffe zuschaltete und die Waffenleitstation hochfuhr, erreichten ihn über Kopfhörer die Meldungen seiner beiden Artilleriegasten „Waffe gefechtsbereit, Gurte eingelegt!“.
Nun folgte ein kurzes Durchfahren der Systeme und Waffen, danach die Meldung an den Kommandanten „Gefechtsstation 15 gefechtsbereit!“.
Keine zehn Minuten waren seit dem ersten Klingelton vergangen, die Handgriffe, hundertfach geübt und längst in Fleisch und Blut übergegangen, saßen selbst im Dunklen.
In kurzer Folge meldeten nun auch die anderen Befehlsstände und Gefechtsstationen ihre Gefechtsbereitschaft, Holstein verfolgte das Ritual über die Sprechfunkanlage gelassen, nunmehr im dritten Dienstjahr stehend und zur Abteilung der Schnellboote gehörend, die der operativen Gruppe des Warschauer Vertrages im Ostseeraum zugeordnet war, jedes der Boote aufgerüstet mit vier scharfen Raketen und jeweils eintausend Schuss gegurteter Munition pro Schnellfeuerwaffe, gehörten für ihn Gefechtsübungen wie diese zur handwerklichen Routine.
Nicht mehr lange, dann würde der Befehl zum Anlassen der drei jeweils viertausend Pferdestärken beherbergenden schnelllaufenden Hauptmaschinen den Maschinenfahrstand erreichen, Pressluft in die Zylinder gedrückt und die Maschinen hochfahren lassen.
Schon schrillte zwölf mal „Anton“ ins Deck, der Befehl zum Ankerhieven.
Die Boote formierten sich in Kiellinie, das Führungsboot „Richard Sorge“ mit Holstein an erster Position, an Bord neben dem Abteilungskommandeur auch der Brigadechef und Angehörige seines Stabes.
Bald erreichte die Abteilung freien Seeraum, von Osten stieg die aufgehende Sonne über die Kimm, die Maschinen liefen jetzt AK, drei mal zweitausendzweihundert Umdrehungen pro Minute.
Hoch schoben sich die Buge der Boote aus dem Wasser, die hinter sich eine massiv aufschäumende Hecksee herzogen.
Holstein starrte auf den über grün fluoreszierendem Radarschirm rotierenden Elektronenstrahl, reflektierende Ziele als Punkte, Striche und verwaschene Flecken darstellend.
Im wechselnden Turnus der Boote oblag ihm die erste Wache der elektronischen Luftraumüberwachung.
Zwei Stunden würde er nun angestrengt vor der Station auf die grüne Elektronenstrahlröhre stieren, hin und wieder ein Objekt mittels der Freund-Feind-Kennanlage abfragen, die nicht als Freund ausgewiesenen Ziele dem Kommandanten melden.
Und die Temperatur im mit Röhren bestückten Geräten vollgestopften Waffenleit-Schapp würde sich schon sehr bald auf weit über vierzig Grad Celsius bewegen, der Schweiß würde wieder in Strömen über Gesicht, Brust und Rücken fließen, selbst dann, wenn Holstein befehlswidrig die Jacke mit der darin eingeknöpften Schwimmweste des orangefarbenen Kampfanzugs-See von sich warf.
Abgase der Dieselmotoren, eingesogen von der Belüftungsanlage, und Gerüche aus der benachbarten Kombüse würden zusätzlichen Leidensdruck erzeugen.
Hoffentlich stand diesmal nicht noch „Atomalarm“ im Manöverdrehbuch! Dann käme als Krönung des Ganzen die für wenigstens eine Stunde aufgesetzte Schutzmaske an die Reihe.
Scheußlich, scheußlich! So sehr aber die Gefechtsübungen auch allen zum Halse heraushingen, Holstein akzeptierte sie am Ende unter dem Motto, welches seitens der Politoffiziere in Anlehnung an die Erfahrungen der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg stetig erneut gepredigt wurde: Wir müssen uns mit aller Härte auf einen Krieg vorbereiten, der niemals stattfinden darf.
Wenn doch, so spart jeder Tropfen Schweiß in der Ausbildung Blutstropfen im Gefecht.
Die Boote hatten den zugewiesenen Übungsraum Höhe Adlergrund inzwischen erreicht und sich dort mit den an der Übung beteiligten Einheiten der Polnischen Seekriegsflotte und der Baltischen Rotbannerflotte vereinigt.
Geübt werden sollte die Zerschlagung eines gegnerischen Landeverbandes, zuerst geführt durch Kräfte der verbündeten Luftwaffen, danach die Schlagausweitung durch die Raketenboote aus einer Distanz von etwa zwanzig Seemeilen, den Rest sollten dann mittlere und leichte Torpedoschnellboote besorgen.
Die MIG’s erreichten den Übungsraum ein Stunde später als geplant, Holstein hatte sie über Luftradar erst sehr spät bemerkt, im Ernstfall wären er chancenlos gewesen, bei Feindanflug rechtzeitig das Feuer zu eröffnen.
Als die Jagdflieger in geringer Höhe über die Boote ihrem Ziel entgegenfauchten, fragte der Kommandant ärgerlich nach der ausgebliebenen Luftwarnung.
Es war aber längst ein offenes Geheimnis: direkt anfliegende Ziele mit sehr kleiner Reflexionsfläche ließen sich erst auf dem Radarschirm des Waffenleitsystems ausmachen, wenn sie sich schon so weit genähert hatten, dass ihre wirksame automatisierte Bekämpfung nicht mehr möglich war.
Der Kampfverband der Schnellboote formierte sich erneut, abteilungsweise drehten die Boote in Dwarslinie, ihre schnellen Körper glitten übers Wasser, die Abdeckungen der Raketenhangars öffneten sich, vom sowjetischen Führungsboot kam das „nasch daloi!“, die Befehle zum fiktiven Raketenstart wurden erteilt.
Im Ernstfall würden jetzt in kurz nacheinander abfolgenden Salven aus diesem maritimen Kampfverband insgesamt achtundvierzig Raketen einer Schar tödlicher Raubvögel gleich der feindlichen Gruppierung mit mehr als Schallgeschwindigkeit ihre verderbenbringende Fracht entgegentragen und jener erhebliche Verluste beibringen.
Während die Raketenboote bereits abdrehten, rasten die Torpedoboote weiter in Richtung Ziel, sie würden aus kürzester Distanz die Reste des Gegners zerschlagen müssen.
Holsteins Boot hatte die Luftraumbeobachtung inzwischen dem Turnus folgend an ein Schwesterboot abgegeben, er schaltete das Radar ab, die Anlage auf Bereitschaft und schälte sich aus dem Kampfanzug.
Zeit, eine in Ruhe zu rauchen.
Er entleerte den bis zum Überlaufen gefüllten, aus einem Waggon der Reichsbahn ab- und an den Geräterahmen der Station angeschraubten Aschenbecher, steckte sich dann eine „F6“ an und stieß die Stiefel von den Füßen.
Sicher würde man in der Auswertung zur Übung in wenigen Tagen wieder die gezeigten Leistungen lobpreisen, zahlreiche Orden, Medaillen und sonstige Belobigungen verteilen, obgleich die Jagdflieger wieder einmal zu spät kamen, obgleich keines der den Luftraum überwachenden Boote die herannahenden Flieger rechtzeitig ausmachen konnte.
Kein besonders glaubwürdiger Anlass zum immer wieder gepredigten bedingungslosen Vertrauen auf die sowjetische Waffentechnik.
Mit dieser hatte Holstein schon andere Erfahrungen gesammelt: Vor Wochen tüftelte er an einer scheinbaren Unzulänglichkeit der Waffenleitanlage, ermittelte den optimalen Zeitpunkt des ersten Feuerstoßes auf anfliegende Luftziele so, dass diese genau in die sich entfaltende Splitterwolke der abgefeuerten Geschosse stießen, bastelte dazu ein Anzeigegerät, welches dem elektronischen Schützen genau diesen Zeitpunkt vermittelte und reichte seine Überlegungen als Verbesserungsvorschlag beim dafür zuständigen Offizier im Flottillenstab ein.
Der reagierte prompt und ablehnend: Wenn die sowjetischen Genossen, welche dieses Waffensystem entwickelten, solcherart Anzeige für erforderlich gehalten hätten, dann hätten sie eine solche auch beigestellt.
Zwar stellte sich wenig später heraus, dass die sowjetischen Genossen sehr wohl eine solche Anzeige vorgesehen und beigestellt hatten, nur eben dem deutschen Bundesgenossen unzureichend übermittelt und beschrieben.
Holstein, in Unkenntnis, hatte gewissermaßen auf anderen Wegen das Fahrrad zum zweiten Mal erfunden.
An der völlig absurden Begründung des Offiziers aus dem Flottillenstabes tat dies in Holsteins Augen keinen Abstrich.
Oder waren die sowjetischen Kriegstechnik-Entwickler womöglich schon am Ende des überhaupt erreichbaren wissenschaftlich-technischen Erkenntnisgewinnes angelangt, und der den Verbesserungsvorschlag bearbeitende Flottillenoffizier wusste von diesem höchst bedeutungsvollen, bislang geheimgehaltenen Sachverhalt? Obermaat Lehnert jedenfalls, mit dem Holstein inzwischen eng befreundet war, klopfte sich nur ohne Worte vielsagend an die Stirn, als ihm Holstein die Begründung zur Ablehnung seines Vorschlages vortrug.
Wer, der Kluge? Ein halbes Jahr länger dienend als Holstein, kannte Lehnert den schneidigen Eiferer noch, als dieser vor seiner Versetzung in den Stab der Flottille als Artillerieoffizier der Raketenschnellbootsbrigade fungierte.
Der sei doch noch nie richtig zurechnungsfähig gewesen, mutmaßte Lehnert und wusste sogleich kaum zu Glaubendes zu berichten.
Ein Mal, als junger Leutnant kurzzeitig selbst ein Raketenboot kommandierend, befahl Kluge im freien Seeraum den beiden Artilleriegasten, unterstützt vom hinzubeorderten ersten Hangargasten, das Buggeschütz auf das ihn seiner Meinung nach zu dicht auffahrende Funkaufklärungsschiff der Bundesmarine „Oste“ auszurichten.
Da zu diesem Zeitpunkt die elektronische Steuerung der Waffe nicht betriebsbereit war, ließ er die mechanischen Verriegelungen des Geschützes entsperren und die eigentlich nicht funktionstüchtige Waffe der Abschreckung halber mit Hand in Richtung Gegner drehen.
Diese deutlich überhöhte Auslegung des Schutzes der Seegrenzen des sozialistischen Lagers kostete Leutnant Kluge seine Kommandantenstelle.
Ein anders Mal habe er sich während einer Beratung vor FDJ-Funktionären sogar zur Aussage verstiegen, jeglicher Erfolg des amerikanischen Mondlandeprogramms diene allein dem Imperialismus, deshalb wünsche er allen Unternehmungen in diesem Sinne aus ganzem Herzen ein Desaster nach dem andern, menschliche Opfer darin eingeschlossen.
Für diese, selbst den engagiertesten Mitgliedern der Politabteilung der Brigade nicht ganz geheueren Bekundungen hatte man ihn zwar anschließend derb Maß genommen, auch Leistungen us-amerikanischer Wissenschaftler seien schließlich Leistungen der Menschheit insgesamt, es blieb aber ein fader Geschmack.
Der intelligente und listenreiche Brigadechef lobte den Mann bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit weg, mochten sich doch die Stabshengste vorn in der Flottille mit dem Blödian he-rumärgern.
Während die Boote auf Westkurs nördlich der Insel Rügen der Ansteuerung Libben entgegenliefen, um in den Heimathafen zurückzukehren, sinnierte Holstein im engen Waffenleit-Schapp vor sich hin.
Hin und wieder steckte der Smut seinen Kopf durch die Tür, fragte nach dieser und jener Belanglosigkeit, ganz offensichtlich langweilte er sich heftig in seiner Kombüse.
Als es Holstein zu viel wurde, bedeutete er ihm, doch lieber die Zeit nutzend seine Töpfe zu putzen.
Er konnte den immer etwas schmuddeligen und brutalen Obermatrosen nicht leiden.
Vor Antritt seiner Dienstzeit bei der Volksmarine hatte der Koch als Fleischer in einem großen volkseigenen Schlachtbetrieb gearbeitet, dort muss es rabiat zugegangen sein.
In den Mittagspausen fingen sich die Metzger regelmäßig eine der zahlreich umherstreunenden Katzen, dieser zogen sie bei lebendigem Leibe das Fell über die Ohren, hängten sie an einen Kranhaken und beschossen sie aus Katapulten mit Krampen.
Die Treffer der Schützen ließen sich eindeutig ermitteln und zuordnen, denn die Katze kreischte, solange sie noch lebte, jedesmal laut auf.
Der Schützenkönig spendete einen Kasten Bier und eine Flasche Klaren, das soffen sie am gleichen Tag noch während der Schicht aus.
Als Holstein davon hörte, drehte sich ihm der Magen um.
Als kleinen Trost empfand er es, als vor wenigen Wochen während eines routinemäßigen Seetörns der Signalgast gemeinsam mit dem Rudergänger den großen Topf völlig versalzener Tomatensuppe aus dem Mannschaftsdeck zurück zur Kombüse schleppten und dem mit aufgerissenem Mund darin stehenden Smut wortlos und vollständig zwischen die Füße schwappten.
Der Smut ließ ihn jetzt in Ruhe, Holstein versank wieder in seinen Überlegungen.
Das Jahr achtundsechzig hatte es irgendwie in sich, es atmete schnelllebige politische Hektik, ein Ereignis hetzte das nächste, auch die Besatzungen der Raketenboote blieben nicht davon verschont, jedoch warfen die Ereignisse ihre Schatten schon ein Jahr vorher voraus.
Zurückgekehrt aus dem fernen Tallinn wurde Holsteins Raketenschnellboots-Abteilung anfangs 1967 zügig auf den Einsatz im operativen System der Seestreitkräfte des Warschauer Vertrages im Ostseeraum vorbereitet.
Das schloss eine lange Werftliegezeit im Frühjahr 1967 in der Marinewerft Wolgast ein, alle technischen Systeme wurden gründlich überholt.
Danach folgten jede Menge Boots- und Abteilungsgefechtsübungen und das scharfe Raketenschießen im Seeraum vor Baltisk, dem früheren Pillau.
Holstein wurde zum Obermaat befördert.
Stolz antwortete er auf die Verleihung des heiß ersehnten Winkels unter dem Maaten-Anker am linken Ärmel der Uniformbluse „Ich diene der Deutschen Demokratischen Republik!“, jetzt gehörte auch er sichtbar zum Kreis der altgedienten Garde.
Den recht turbulenten Jahresurlaub verbrachte Holstein gemeinsam mit Lehnert und dem Bootsmann des Schwesterbootes im Harz zur gleichen Zeit, da israelische Panzer im Sechs-Tage-Krieg den Sinai überrannten.
Täglich erwarteten sie im Urlaubsort den sofortigen Rückkehrbefehl zur Einheit, doch der blieb aus.
Mit Beginn des neuen Ausbildungsjahres im Herbst 1967 übernahmen die Boote der Abteilung Gefechtsraketen mit scharfen Sprengköpfen, rüsteten die Schnellfeuerwaffen vollständig mit gegurteter Munition auf und wurden ins operative System des Warschauer Paktes eingegliedert.
Bereits vor diesem Zeitpunkt ergossen sich Mitarbeiter der Politabteilungen aller Ebenen wie Heuschreckenschwärme über das Boot: Die Besatzung sollte für die gesamte Volksmarine den Aufruf zum sozialistischen Wettbewerb des kommenden Ausbildungsjahres einbringen, so lautet der Beschluss der Politabteilung der Flottille.
Der neue Kommandant, Kapitänleutnant Ziegler, sah’s mit zwiespältigen Gefühlen.
Einerseits war es noch nie vorgekommen, dass sich die Initiatoren eines Wettbewerbs in diesem nicht auch als Sieger behauptet hätten, dies verbunden mit jeder Menge vorzeitiger Beförderungen, Orden und Prämien, andererseits war ein gewaltiger Haufen an polit-bürokratischen Vorbereitungen, Verrichtungen und Abrechnungen damit verbunden.
Das begann bei der Erstellung der persönlichen Verpflichtungen eines jeden einzelnen Besatzungsmitgliedes, erstreckte sich über die klangvolle Gesamtverpflichtung des Bootes und mündete letztlich in den dann auch in allen einschlägigen Zeitungen des Küstenbezirkes veröffentlichtem Anruf selbst.
Versteht sich von selbst, dass nach Aufruf aller Augen fortwährend auf den Initiator gerichtet sind, die der missgünstigen Neider wie die der eifernden Kontrolleure.
Damit auch alles von Anfang an in die richtigen Bahnen geleitet werde, griffen die Polit-Profis der Flottille mit hinreichend erprobten Instrumentarien ein.
Über Wochen führten sie Aussprachen mit der Mannschaft, mit den Unterführern und den Bootsoffizieren, überarbeiteten vorgelegte Erklärungen, legten eigene, längst vorgefertigte Entwürfe vor.
Allmählich artete die stete Bearbeitung in den wachsenden Unmut der Besatzung aus, man solle sie doch endlich mit der permanenten Wortklauberei in Ruhe lassen.
Ja, sie würden schon alle mitziehen, um Wettbewerbssieger zu werden, aber bitte geht uns endlich mit dem pingeligen Papierkram vom Acker! Die Bootsoffiziere konnten den gestiegenen Ärger nur mit Mühe zügeln, letztendlich unterschrieben sie alle die nur in Ansätzen noch ihrer eigenen Feder entstammenden Verpflichtungserklärungen.
Nachhaltig starrköpfig zeigten sich der Obermaschinist und Holsteins zweiter Artilleriegast.
Ersterer beteiligte sich erst nach stundenlangem gemeinsamem Zureden durch Kommandant und Leitendem Ingenieur an dem, wie er sich ausdrückte, „Panoptikum“, letzterer wollte partout nicht davon abrücken, in seiner Verpflichtungserklärung die Formulierung „ich will mit besten Leistungen im militärisch-kulturellen Wettbewerb dem Signalgast, diesem arroganten Fatzken, beweisen, dass ich genau so gut sein kann, wie er“ aufzugeben.
Nein, nein, nein, so geht das nicht! Persönlicher Ehrgeiz - schön und gut, reicht aber keinesfalls für Vorhaben der geplanten Art.
Politisch ehern fundamentierter Motive bedarf es, „dem Sozialismus treu ergeben“ und ähnlicher.
Es dauerte geraume Zeit gepaart mit geduldiger Überzeugungsarbeit, den Artilleriegast umzustimmen.
Schwierig gestaltete sich die Sache auch mit dem Koch.
Der, wissend, dass es mit seinen Schießkünsten noch nie weit her war, und er niemals, niemals auch nur im Traum den Sicherungsring einer Handgranate ziehen würde, suchte verzweifelt nach Möglichkeiten, dieses Manko auszugleichen.
„Am besten, du verpflichtest dich, endlich genießbares Essen zu kochen, dein Fraß hängt uns nämlich langsam zum Halse heraus!“, schlugen eigennützig die einst vanillepudding-genasführten Rühreiesser vor.
Mit solchen Empfehlungen hingegen konnten die den Prozeß gestalteten Politoffiziere nichts anfangen, wohlgeratene Klöße und schmackhaft gegarter Schweinegulasch taugten nicht als Kampfmittel in der Auseinandersetzung mit dem Weltimperialismus, voran die westdeutschen Kriegstreiber.
Man einigte sich mit dem Koch letztlich derart, dass er sich zum Zeitpunkt des Schießens mit der Handfeuerwaffe und zum Handgranatenwerfen möglicherweise im Urlaub befinden oder, was ja auch nicht ausgeschlossen wäre, im Lazarett liegen könne.
In ihrer von diversen Möglichkeiten geprägten Voraussicht sollten die Politoffiziere Recht behalten: Der Koch lag während der Schießübungen tatsächlich im Lazarett, dies allerdings weder geplant noch gewollt und schon gar nicht wettbewerbsfördernd.
Während eines Umsteige-Aufenthaltes in Berlin trieb es ihn in die Innenstadt, er kehrte in diversen Gasthäusern ein und landete zu später Stunde in der Nachtbar „Kleine Melodie“.
Dort fiel er trotz seines deutlich wahrnehmbar unsicheren Gangs einer strammen, allein sitzenden Blondine mittleren Jahrgangs ins Auge, die ihn nach ein paar gemeinsamen Drinks mit zu sich nach Hause schleppte.
Wie sie es verstand, den vom massiven Alkoholgenuss völlig erschlafften Seemann wieder standfest zu machen, blieb ihr Geheimnis, kein Geheimnis hingegen blieb die sich alsbald nach Urlaubsrückkehr im Genitalbereich des Kochs zeigende Erkrankung.
Möglicherweise handelte es sich bei der die Leiden des Schiffskochs verursachenden Dame auch nicht um eine stramme Blondine mittleren Alters sondern viel eher um eine schmale Dunkelhaarige Anfang Zwanzig, die vom Koch selbst dazu in mehren Varianten erbrachten Darlegungen widersprachen sich in diesem Punkt nämlich auffällig.
Dem traurigen Endresultat der Urlaubsbekanntschaft tat dies jedoch keinerlei Abbruch.
Aber diese Geschichte trug sich erst im März des Folgejahres zu, da waren der Mikulei, der militärisch-kulturelle Leistungsvergleich, wie sie den Wettbewerb benannten, und seine unangenehmen Begleiterscheinungen längst zur Routine verblasst, von weitaus bedeutungsvolleren politischen Ereignissen in den Schatten gestellt.
Mit Wintereinbruch 1967 stellte Holstein den Antrag auf Mitgliedschaft in der SED.
Nicht ganz von selbst freilich, es bedurfte dazu einer kurzen Aussprache, zu welcher der Politoffizier der Abteilung, vor wenigen Wochen noch sein Kommandant, geladen hatte.
Allerdings auch ohne weitreichenden Überlegungen und Widerstände, für Holstein war die Sache klar.
Er, der Arbeiterschaft entstammend, in einem vom proletarischem Geist beseelten Elternhaus aufgewachsen, mit den Wirkungsprinzipien und Gesetzmäßigkeiten des dialektischen und historischen Materialismus bestens vertraut, war sich gewiss: Der gesellschaftliche Zwangslauf zum Sozialismus ist ein Gesetz gleich dem, dass ein in die Luft geworfener Stein wieder auf die Erde zurückfällt, eine Umkehr in die historisch überlebte Phase des Kapitalismus würde es nicht geben, nicht in der DDR und nicht sonstwo im Machtbereich der sozialistischen Staaten.
Zur noch schnelleren, noch forcierteren Umsetzung der Staatsziele bedurfte es allerdings einer Gruppe von Aktivisten, die sich mehr als alle anderen bewusst und diszipliniert diesen Zielen unterordnete und hingab, einen historischen Selbstlauf durfte es nicht geben.
Holstein sah in der SED diese Gruppe von Aktivisten, er wollte dazugehören.
Politoffizier Anders vernahm Holsteins Einverständnis mit Freuden, ganz im Stillen meinend, mit diesem Fischzug gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
Zum einen, rein prinzipiell gesehen, erhielt die sozialistische Massenpartei neuen Typus einen weiteren, sowohl quantitativen als auch qualitativen Zuwachs, zum anderen verbesserte er sein persönliches Punktekonto bei der Kanditatengewinnung, ein wichtiger Aspekt am Beginn seiner neuen Laufbahnkarriere, und nicht zuletzt hatte er Holstein jetzt neben der sowieso gegebenen militärischen auch noch am Gängelband der parteiseitigen Disziplinierung.
Doppelt hält besser, bei Holstein schien das ab und zu erforderlich, allzu leicht ließ der sich von gegebenen Umständen und Verlockungen verleiten und geriet so auf dubiose Abwege.
So geschehen erst im vergangen Sommer: Oberleutnant zur See Anders spazierte eines Samstags Morgen den langen Weg aus seiner erst kürzlich am Wohnstandort Dranske bezogenen Neubauwohnung zur Dienststelle, entlang der asphaltierten Straße, welche die Dünen auf dem schmalen Land zwischen See und Bodden schnitt, nach Passieren des Kontrollpostens vorbei an den Stabsgebäuden, dann die Abkürzung Richtung Raketenpier nehmend durch das Wäldchen, welches die Hafenanlagen von den rückwärtigen Einrichtungen trennte.
Der lange Marsch schien ihm notwendig aus dreierlei Erwägungen.
Er würde dazu beitragen, die im Ergebnis der freitäglichen Skatrunde gewaltig aufgetürmten Kopfschmerzen durch Bewegung an frischer Luft zu mildern, gleichzeitig entging er damit dem nicht grundlos finsteren Blicken und Knurren seines Eheweibes.
Mit der war auch aus andern Gründen zur Zeit nicht gut Kirschen Essen.
Eigentlich zur Oberstufenlehrerin ausgebildet, hatte es sie nach der Hochzeit aus Schwerin in dieses Fischerkaff am Ende der Welt verschlagen.
Kein Kaufhaus, kein Theater, nicht einmal ein ordentliches Kino, Arbeitsmöglichkeit auch nicht.
Eine in den ehemaligen Bauarbeiter-Baracken eingerichtete Schneiderstube sollte dem Arbeits- und Geselligkeitsdrang der zahlreichen vom gleichen Schicksal betroffenen Offiziersgattinnen entgegenkommen.
Schneidern und Nähen aber war nicht jeder Frau Sache, Abwechslung boten da eher die Arbeiter der seit geraumer Zeit im Umkreis tätigen Erdölbohrtrupps, welche schon bald nicht nur nach Erdöl bohrten, insbesondere dann nicht, wenn die Gatten der von Langeweile geplagten Damen für Tage und Wochen zum Schutze der Republik die Meere befuhren.
Außerdem würde er, Politoffizier Anders, ganz beiläufig in der Abteilung nach dem Rechten sehen, denn wie hieß es doch schon bei Altmeister Lenin: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.
“ Gerade als er die Gleise der Slipanlage der Torpedoboote überquerte kam ihm mit straffem Schritt Proviantmeister Vollmer entgegen und grüßte, was sonst eigentlich nie seine Art war, überraschend zackig, so dass Anders, der sich heute auch mit einem bürgerlichen „Guten Morgen“ begnügt hätte, vor Überraschung für einen Moment regelrecht die Fasson verlor, stolperte und fast der Länge lang hingeschlagen wäre.
Vollmer gehörte zwar zu den dienstältesten Unterführern, nicht aber zu den dienstgradhöchsten.
Irgendwann hatte er es auch einmal bis zum Obermeister geschafft, zur Zeit trug er wieder die Bändermütze.
Nein, eine wahre Freude war das wahrlich nicht mit diesem disziplinlosen Menschen, als Proviantmeister aber tip-top.
Wo andere Abteilungen infolge Misswirtschaft Fadennudelsuppen löffelten, standen bei ihnen noch immer Fleischtöpfe auf der Back.
Was hatte der aber heute, am Samstagmorgen, in der Einheit zu suchen? Als Heimschläfer fuhr er normalerweise freitags bei Dienstschluss nach Bergen und kehrte von dort erst montags zurück.
Je mehr sich Anders den Booten seiner Abteilung, die im doppelten Päckchen am Wohnschiff in den leichten Wellen tänzelten, näherte, nunmehr in raschen Schritten, desto stärker stellten sich mit schlimmen Anzeichen arge Befürchtungen ein.
Schon als er die Pier betrat, vermeinte er, lauten Gesang zu hören, sozialistische Soldaten- und Kampflieder allerdings nicht darunter.
Das „Polenmädchen“ brach plötzlich abrupt ab, dafür tauchten auf unsicheren Beinen nach allen Seiten wegtorkelnd jede Menge Unterführer aus dem Wohnschiff auf, mit und ohne Mütze, in den merkwürdigsten Kostümierungen.
Er sah Lehnert, das rechte Hosenbein bis zum Knie an der Naht aufgerissen, in der Brücke eines Bootes verschwinden, glaubte auch Holstein zu erkennen, wie der kopfüber im vorderen Luk auf der Back abtauchte.
Zu allem Übel lief ihm noch Maat Schneider direkt in die Arme, mit freiem Oberkörper, die Uniformbluse zerknüllt unter dem Arm geklemmt, offensichtlich bar jeglichen Orientierungsvermögens und aus allen Löchern nach Fusel stinkend.
Maat Flämig, der Hilfe anbietend herbeieilte, half ihm aus der misslichen Lage und übernahm den Lallenden.
Flämig schien von den augenscheinlichen Eskapaden der Unterführer nicht betroffen, hatte freilich auch allen Grund dazu, sich fürderhin auch nicht das geringste Vergehen zuschulden kommen lassen.
Aus bescheidenen Verhältnissen einer mecklenburger Landarbeiterfamilie entstammend entschloss sich Flämig, gerade aus der Ausbildung kommend in seiner ersten Dienststellung als Bootsmann installiert, zu einer Dienstzeit als Berufssoldat.
Kaum lag die Ernennungsurkunde vor, brachte es Flämig zu unvorhergesehenem Reichtum, jedenfalls was den Unterschied zu seinen Kameraden anbelangte.
Beim Dudeln eines erst kürzlich gekauften Kofferradios „Stern-drei“ putzte er ein gleichsam neuwertig erstandenes Motorrad, eine zweihundertfünfziger MZ.
Seine Decksgenossen sahen es mit Staunen, hatten den Flämig plötzlich ein Lottogewinn oder eine völlig unerwartete Erbschaft heimgesucht? Mitnichten.
Bald schon brach der Krug, der nur wenige Male, dafür aber um so heftiger zu Wasser ging und offenbar wurde, was wirklich geschah: Flämig, in Erwartung wesentlich höherer Dienstbezüge als dann tatsächlich erzielt, nahm in Übermaß Schulden auf, um der materiellen Tristesse seines bisherigen Seins zu entrinnen, Schulden gleich denen eines Majors.
Als seine Gläubiger, allesamt gleichaltrige Bewohner seines mecklenburger Heimatdorfes, mit stärkerem Nachdruck, teilweise auch verbunden mit bösartigen Drohungen, auf alsbaldige Rückzahlung drängten, fertigte Flämig in seiner Not aus einem Stück Linoleum, welches er geschickt mit entsprechendem Werkzeug bearbeitete, ein Kunstwerk, das sich von dem Stempel der Deutschen Post, den die Postbeamten gewöhnlichwerweise zur rechtmäßigen Abrundung getätigter Postsparbuchein- und -auszahlungen nutzten, bei grobem Hinsehen nicht wesentlich unterschied.
In der Folge zahlte er denn, ohne die eigentlich dafür erforderliche Aktivität eines dazu befugten Angestellten der Deutschen Post zu bemühen, hurtig größere Beträge in eigner Zuständigkeit in sein Sparbuch ein und besiegelte den Akt mit dem Linoleum-Stempel.
Auszahlungen, auch größeren, stand damit vorerst nichts im Wege, bis die zunehmend negative Diskrepanz seines Kontos den Postbeamten in der Abrechnungsstelle der Oberpostdirektion auffiel.
Der zur Klärung des denkwürdigen Sachverhaltes in die Oberpostdirektion nach Stralsund bestellte Bootsmann Flämig täuschte in erster Instanz Unwissen und Erstaunen vor, in der zweiten den Verlust seines Sparbuches, in der dritten gestand er alles.
Die Militärgerichtsbarkeit befand auf zwei Jahre Haft in der Militärstrafanstalt Schwedt.
Vor zwei Monaten nun kehrte Flämig von dort zurück, vorfristig zwar, hatte dort aber immerhin mehr als ein Jahr gebrummt.
Nun war er vor Diensteifer nicht mehr wiederzuerkennen, offenbar hatte man ihn in der Verwahranstalt gestrauchelter Armeeangehöriger gewaltig das Fürchten gelehrt.
Dort, woher Anders vorhin Gejohle zu hören glaubte, erscholl nun blechernes Dröhnen, begleitet von einem monotonen Singsang.
Anders stürmte den Niedergang aufwärts der Geräuschquelle entgegen.
Das Wohnschiff schien sonst wie ausgestorben, nur hier und da schaute einer der mit dem samstäglichen Großreinschiff beschäftigten Mannschaft um die Ecke, feixend, wie es Anders schien.
Wo zum Himmel blieben denn die Diensthabenden? Die Ursache des Lärms war nicht mehr zu verfehlen, aus den Angeln gerissen hing die Tür zur letzten Kammer schräg in den oberen Verkehrsgang, aus der Kammer entströmte ein alle Sinne betäubender Gestank, der halbrunde Tisch lag von seinen Verankerungen am Boden gerissen mitten im Raum, umgeben von Zigarettenresten, umgeschmissenen Aschenbechern und jeder Menge leerer Schnaps-Pullen.
Aus einem der verschlossenen Spinde wummerten rhythmische Schläge gegen die Blechwand, dazu erklang in kurzen Abständen der krächzende Ruf: „Nieder mit Polit!“ Wieder und wieder und wieder.
Der seinen Augen und Ohren noch immer nicht trauende Anders verschaffte sich Zugang zum Spind, indem er die Tür dazu kurzerhand aufzerrte.
Mit völlig blödsinnigem Grinsen fiel ihm der Verwaltungsmaat entgegen, und da Anders den schweren, absolut bewegungsunfähigen Trunkenbold nicht halten konnte, schlug dieser auf den Boden.
Wie es sich in den diesem Exzess folgenden Untersuchungen herausstellte, lag die Ursache der Orgie in des Proviantmeisters Vollmers erneuter Vaterschaft.
Der hatte vom freudigen Ereignis am Vortag erfahren und schon einmal ein paar Flaschen vom Hochprozentigen organisiert.
Der zunehmende Lärm, den der eigentlich kleine Kreis geladener Gäste mit steigendem Alkoholpegel verursachte, lockte auch eine Reihe Nichtgeladener an, die schleppten weitere Bestände diverser Alkoholsorten herbei, so dass am Ende zwölf Mann fünfzehn große Pullen leerten und dabei im engen Raum hemmungslos krakelten.
Kurz nachdem Vollmer das von ihm inszenierte Gelage verließ, meldete der den Verkehrsgang bohnernde Matrose das Erscheinen des Politoffiziers.
Die Meute stob auseinander, allein der Verwaltungsmaat rührte sich nicht mehr von der Stelle.
So stopften sie ihn zu dritt kurzerhand in den nächstbesten Spind und schlossen die Tür ab.
Im trunkenen Hirn des Verwaltungsmaaten hatten sich die Worte „Achtung, der Polit kommt!“ eingegraben, nun machte er seinem aufgestauten Frust lauthals Luft.
Seit dem Sommer des Jahres 1966 war der Genuss von Alkohol in den Kasernen und Einrichtungen der Nationalen Volksarmee per Ministergesetz untersagt.
Das dämmte dessen Verbrauch zwar erheblich ein und trug damit auch zur rapiden Erhöhung der Gefechtsbereitschaft bei, gänzlich zu unterbinden gelang die Sauferei in den Stuben und Decks jedoch zu keiner Zeit.
Die Vollmersche Vaterschaftsfete mündete in eine zweckdienlich angeordnete Abteilungsmusterung.
Nach allgemeinen Auslassungen betreffs Erhöhung von Disziplin und Ordnung durch den Abteilungschef, jeder der Angetretenen wisse, was er meine, hieß der ACH die Mannschaften wegtreten, dann hagelte es jede Menge Strafen, je nach Maß der Beteiligung.
Anstifter Vollmer verlor noch den Winkel unter seinem Maaten-Anker, der ACH ließ es sich nicht nehmen, hier selbst Hand anzulegen und ihn mittels einer Nagelschere genüsslich grinsend zu entfernen.
Der Verwaltungsmaat wurde zum Stabsmatrosen degradiert, Maat Schneider erhielt zwei Tage Arrest, Holstein und Lehnert kamen mit einem Verweis davon.
Um es gleich vorwegzunehmen, Holsteins Parteieintritt änderte nichts an seinem Verhalten.
Weder sein vorgesetzte Stellen mit deutlicher Sorge erfüllender gar zu salopper Umgangston mit Unterstellten, noch sein stets etwas zu lang gewachsener Haarschnitt, schon gar nicht seine zu Zeiten recht gammelige Dienstuniform erfuhren eine den Oberleutnant Anders zufriedenstellende Wendung.
Auch schienen Holstein, Lehnert und weitere Unbelehrbare trotz der eben am eigenen Leibe erfahrenen drakonischen Maßnahmen nach wie vor klammheimlich dem Alkohol zu frönen, und das nicht zu knapp.
Das Frühjahr 68, kurz nach dem mit großem Propagandaaufwand im ganzen Land vorbereiteten und durchgeführten Volksentscheid zur neuen Verfassung der DDR, bescherte Holstein eine Entscheidung, welche sich mit einer zu diesem Zeitpunkt in keiner Weise vorstellbaren Nachhaltigkeit in sein weiteres Leben einnistete.
Holstein, zum Wachstand zitiert, traf dort auf den Verbindungsoffizier des GA-7.
Gefechtsabschnitt-Sieben lautete in Anlehnung an die fünf regulären Gefechtsabschnitte der Boote die Umschreibung für den militärischen Abwehrdienst, welcher dem Ministerium für Staatssicherheit unterstand.
Holstein hatte den jungen Leutnant, der ihn in freundlich Empfang nahm, wohl schon des öfteren an Bord der Boote gesehen, mit ihm zu tun dagegen noch nichts.
Letzteres sollte sich bald ändern, so jedenfalls, wenn es nach dem Leutnant gänge.
Holstein möge sich das Angebot reiflich überlegen, nicht jeder käme in Frage.
Genossen wie er aber, aus der Arbeiterklasse stammend, Parteimitglied nicht der Karriere willen sondern aus wahrer Überzeugung, vom gerechten Kampf für Frieden und Sozialismus beseelt, intelligent und hochgebildet wären geradezu prädestiniert für den ehrenamtlichen Dienst in den Reihen des MfS.
Sicher, man säße im richtigen Boot, der Weg in Richtung Sozialismus sei unwiderruflich eingeschlagen, aber der Klassenfeind schläft nicht.
Seinen geheimen Absichten zuvorkommend bedürfe es eben auch der verdeckten Form des Klassenkampfes.
Holstein möge nur an Richard Sorge denken, dessen Namen sein Boot trägt.
Welches Leid, wieviele Opfer wären der Sowjetunion erspart geblieben, hätte Stalin dessen Warnungen nur ernst genommen.
Nun, die Lehren daraus wären gezogen worden, nicht nur bei den sowjetischen Genossen.
Jetzt wäre die Entscheidung also an ihm, Holstein, im Sinne Richard Sorges mitzukämpfen an der geheimen Front.
Holstein, so angesprochen, fühlte sich geehrt.
Außerdem hing ihm geraume Zeit schon der reguläre Dienst an Bord zum Halse heraus, von der Einöde der nördlichsten Landzunge Rügens ganz zu schweigen, er suchte nach neuen Herausforderungen.
Vielleicht ergäbe sich sogar die Möglichkeit, auf diesen Weg die Volksmarine und Dranske zu verlassen und in der Kreis- oder Bezirksdienststelle des MfS in seiner Heimatstadt zu dienen.
Dann hätte sich auch die noch immer offene, zunehmend drängendere Frage: „Wie weiter nach der Fahne?“ ein für allemal erledigt.
Was aber wäre konkret zu tun als Kämpfer an der unsichtbaren Front? Nun, er müsse nicht ins Niemandsland, schon gar nicht auf gegnerisches Gelände, sein Kampffeld sei seine gewohnte Umgebung.
Stimmungen und Meinungen der Leute an Bord gälte es zu analysieren, negative Verhaltensweisen aufzuspüren.
Auch hinter leisesten Tönen könne sich der Klassengegner verstecken.
Aus vielen Steinen wäre das Puzzle zu legen und zu erkennen.
Man würde sich in regelmäßigen Abständen treffen, nicht an Bord freilich sondern an geschütztem Ort.
Holstein solle dort seine gesammelten Erkenntnisse darlegen und je nach Wichtigkeit zu diesem oder jenem Sachverhalt eine schriftlichen Bericht anfertigen, unterzeichnet mit Decknamen versteht sich.
In Holsteins Vorstellungswelt vom Einsatz an der unsichtbaren Front hatten sich solcherart Aktivitäten jedoch noch keinen Raum erschlossen.
„Das hört sich aber eher an wie Kameradenbespitzelung“, entgegnete er deshalb dem Leutnant.
„Moment, Moment,“ wusste der seine Stellung zu halten, „da wäre doch wohl ein kleiner Unterschied zu machen.
Bespitzelung von Kameraden im Kapitalismus, um diese der polizeilichen Willkür des Regimes auszusetzen, ist doch wohl nicht gleichsetzbar mit vorbeugender Aufklärungsarbeit zur Verhinderung von Gegnereinfluss oder Taten, die dem Klassengegner direkt in die Hände spielen und extremen, nicht wieder gut zu machenden Schaden am sozialistischen Aufbau anrichten.
“ Holstein möge sich doch nur die Vorfälle aus jüngster Zeit aus dem eigenen Bereich ins Gedächtnis rufen.
Stimmt, da war einiges dumm gelaufen.
Die Geschichte mit dem gewaltsam gestörten Politunterricht in der eigenen Abteilung zählte da eher zur Kategorie kindlicher Narreteien.
Blöderweise trug sich die Sache an einem Tage zu, da Holstein als Diensthabender im Wachstand auf dem Oberdeck des Wohnschiffes Dienst schob und somit im Rahmen der nachsetzenden Ermittlungen einen gehörigen zeitlichen Aufwand nebst jede Menge Ärger auf sich zog.
Er hörte die zum Politunterricht in die Unterführermesse eingerückten Maate und Obermaate der Schiffsstammbesatzung lärmen, dann war Stille, offenbar hatte der Unterricht begonnen.
Eine geradezu beängstigende Stille allerdings.
Nach etwa einer halben Stunde klappte leise eine Tür, und Holstein sah einen nach dem anderen der Politeleven unbeschuht auf Zehenspitzen die Messe verlassen, zuletzt den Funkmechaniker, Maat Hellmann.
Der huschte an Holstein vorbei aufs Oberdeck und warf etwas durch den geöffneten Lüftungspilz in die darunterliegende Unterführermesse.
Dann entschwand er hastig, Holstein mit dem Finger auf dem Mund bedeutend, ja den Schnabel zu halten.
Rumms!, krachte es vernehmlich in der Messe, die Tür schlug auf und blankes Entsetzen in den Augen stürzte der den Unterricht haltende Schiffsingenieur, umhüllt von einer Wolke beißenden Qualms, daraus hervor, bar jeglicher Worte.
Der Schiffsingenieur, ein korpulenter Korvettenkapitän mittleren Alters namens Krahnewinkel, gehörte zu den, das war jedermann bekannt, eher bedächtigen Zeitgenossen.
Militärisches Gehabe war ihm fremd, dafür aber ein Fachmann wie er im Buche steht, die dreifarbige Flachtaschenlampe stets am dritten Knopf seiner Uniformjacke befestigt.
Die Möglichkeit des explosiven Schabernacks bestand im Wissen, dass der Korvettenkapitän, wenn zu fachfremdem Unterrichtungen eingeteilt, sehr schnell den Faden aus der Hand legte und Selbststudium anordnete.
Während die zu Unterrichtenden mit sich und den Lehrheften beschäftigt waren, zog es der Schiffsingenieur in aller Regel vor, ein kleines Nickerchen zu tätigen.
So geschehen auch diesmal.
Während der Korvettenkapitän leise vor sich hin schnarchelte, verließen die Übeltäter unbemerkt den Raum und warfen die Bombe, einen Silvester-Feuerwerkskörper.
Die Ursache des Vorfalls lag allerdings ein paar Wochen schon zurück: Krahnewinkel betrat als Streifenoffizier, begleitet von zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten bulligen Stabsmatrosen, die Gastwirtschaft im Hotel „Deutsches Haus“ zu Wiek.
Wie immer war der Saal stickig verqualmt und zum Bersten voll, die anwesenden Mariner gleichermaßen.
Auf der Tanzfläche mühten sich redlich vier einsame Pärchen, Takt zu halten.
Krahnewinkel überschaute die Menge und sah vorerst keinerlei Veranlassung, disziplinierend einzuschreiten.
Dieser und jener der Landgänger nickte dem allseits beliebten Offizier zu.
So verharrte Krahnewinkel, die beiden Streifenposten achtungsgebietend hinter sich, gleich an der Tür neben dem kleinen Tisch, an dem wie auch sonst immer einheimische Fischer lümmelten.
Einen von diesen muss korngesteuert der Hafer gestochen haben, denn plötzlich fasste er mit der linken Hand dem Korvettenkapitän zwischen den Schritt und kniff dort kräftig zu.
Krahnewinkel verzog keine Miene, schaute von oben herab auf den bedudelten Fischersmann, griff nach einem auf dem Tisch stehenden Likörglas und goss dessen Inhalt ganz langsam über dem Kopf des trunkenen Provokateurs aus, dass diesem die klebrige rote Brühe über Augen, Nase und Mund bis zum Kinn lief, von welchem sie dann auf das Hemd kleckerte.
Die Musik erstarb sofort, die Pärchen verschwanden von der Tanzfläche, wie auf Kommando standen sich sogleich die gegnerischen Lager gegenüber, die betrunkenen Mariner rechts, die betrunkenen Fischer links, die noch anwesenden wenigen Mädchen machten sich in Kenntnis der nun folgenden Ereignisse flink aus dem Staube.
Es bedurfte keiner weiteren Reizworte, bald flogen die Fäuste, gingen Tische und Stühle zu Bruch.
Nun war es an Krahnewinkel zu ordnen.
Er tat dies mit der ihm eigenen Bedächtigkeit, sortierte mit sicherem Griff aus dem Gewühl die Uniformierten heraus und ließ sie durch die riesigen Streifenposten auf den vor dem Lokal stehenden LKW verfrachten.
Die machten nicht viel Federlesens mit den Trunkenbolden und schmissen die besoffenen Brüder gleich über die hintere Bordwand.
Ein paar der solcherart unsanft Behandelten gehörten zur Schiffsstammbesatzung und schworen Rache.
Beistehen hatten sie dem Streifenoffizier wollen gegen die lausigen Fischköppe, ihn helfend unterstützen, und dann diese schäbige Behandlung! Das verdiente einen Denkzettel.
So entwarfen sie den Plan, Krahnewinkel in Feuer und Qualm zu hüllen, wenn er denn zum nächsten Mal den ohnehin zum Ausreißen langweiligen Politunterricht bei ihnen abhalten würde.
Oberleutnant Anders, der Politoffizier sprach sogleich von einem höchst verdammungs- und bestrafungswürdigem Vorkommnis, Krahnewinkel indes wiegelte ab: lass sie mal, die Jungs haben in dieser vergessenen Ecke der Welt doch sonst kaum eine richtige Freude.
So erging an die Beteiligten lediglich eine deftige Standpauke, gehalten vom Wohnschiffskommanden, sowie die Auflassung des Politoffiziers, einen dem Thema des gestörten politischen Unterrichts entlehnten Aufsatz zu schreiben, Unterthema: „Die Notwendigkeit politischer Erziehung und Bildung in den sozialistischen Streitkräften“, handschriftlich und eigenständig einzureichen bei ihm selbst, mindestens vier Seiten A4.
Wie gesagt, dieses Ereignis gehörte eher zu den Narreteien, wohl kaum zu konterrevolutionären Umtrieben, wenn auch der mißtrauische Politoffizier Anders wie immer imperialistische Nachtigallen trappsen hörte.
Inwieweit der unbeabsichtigte Start einer Gefechtsrakete mit scharfem Sprengkopf von einem Schwesterboot während einer taktischen Übung im freien Seeraum vor Bornholm nicht doch beabsichtigt war, ließ sich beweissicher nie ermitteln.
Der dafür verantwortliche Hangargast wurde vorsorgehalber auf ein Landungsschiff der 4.
Flottille nach Peenemünde versetzt.
Wahr ist jedoch, nur das Starthilfstriebwerk der Rakete hatte infolge einer versehentlich nicht gelösten Steckverbindung gezündet, die eigentliche Treibladung und die Zielortungsautomatik blieben ausgeschaltete, infolge dessen schlug der Marsch-Flugkörper nach knapp 1000 Metern Flug ins Wasser.
Nicht auszudenken, wenn auch der die Rakete auf sicheren Zielkurs bringende Hauptstecker noch angeschlagen gewesen wäre.
Irgendein auf der Ostsee zu diesem Zeitpunkt kreuzendes Objekt hätte seinen Bestimmungshafen nicht erreicht, wäre mit Besatzung und Ladung ein Opfer des Kalten Krieges geworden.
Einziger Geschädigter des Vorfalls blieb so aber, sieht man vom Nervenzusammenbruch des Kommandanten ab, der Signalgast des Bootes.
Den hatte man wie immer bei solcherart eigentlich gefahrlosen Übungen auf der Brücke außen belassen.
Dem überraschten Seemann schlug die Feuerlohe des Raketenschweifs ins Gesicht, versenkte ihm Augenbrauen und Wimpern, verbrannte ihm Lippen und die Haut über dem Nasenbein und schädigte sein Gehör dauerhaft.
Von Gegnereinfluss, Sabotage und ähnlichen vorschnellen Mutmaßungen aber weit und breit keine Spur, ein menschliches Versehen wohl eher.
Schon ganz anders lag der Fall des Stabsmatrosen aus Peenemünde, der während seiner Wache vor einem Landungsboot, die restliche Besatzung tummelte sich derweil quietschvergnügt und nichtsahnend zum Bordfest in den „Vier Jahreszeiten“ zu Wolgast, den Waffenschrank erbrach, diesem zwei Pistolen und eine Maschinenpistole nebst jeder Menge Munition entnahm und sich damit ausgerüstet auf den Weg ins Landesinnere begab.
Erst in Cottbus konnte der umfassend bewaffnete Fahnenflüchtige von den zuständigen Sicherheitskräften gestellt und nach längerwährendem Schusswechsel in Verwahrung genommen werden.
Vor dem Militärgericht outete sich der Vorgeführte als bekennender Freund der USA.
Mit seinen Taten habe er beweisen wollen, dass er fähig sei, an der Seite der Amerikaner gegen den Vietkong zu kämpfen.
Ein starker Tobak! Da musste es doch schon vorher Anzeichen gegeben haben! Oder? Das sah Holstein auch so.
Der dickste Hund aber passierte in der eigenen Brigade.
Gerüchte darüber, dass ganze Besatzungen samt Boot gen Westen die Seiten wechseln wollten, kamen Holstein immer wieder zu Ohren.
In der Raketenschnellbootsbrigade zu Dranske, der gehätschelten Speerspitze, der gepäppelten Elitetruppe der Volksmarine, wurde er selbst Zeitzeuge solchen Geschehens.
Lange schon rumorte es an Bord des Schwesterschiffes.
Die Offiziere, längst Heimschläfer in den neu errichteten Wohnblöcken im einstigen Fischerdorf Dranske, überließen die Bootsführung nahezu ausnahmslos den Unterführern.
Die spielten Lieber Gott und ließen die Puppen tanzen.
Kalter Drill beherrschte die Szene, der Motorenmeister hatte sich eigens eine Art Schürhaken geschweißt, um die Spinde der Mannschaften bei Routinekontrollen bis auf das letzte Bekleidungsstück effizient ausräumen zu können.
Kehrten die Unterführer samstags vom Sport in ihre während des Großreinschiffs gerade frisch gebohnerten Kammern zurück, schmissen sie noch vor Abnahme der Reinschiffstation durch den Diensthabenden ihre dreckverkrusteten Schuhe und Klamotten hinein, duschten und patschten dann barfüßig auf dem hochglanzpolierten Linoleum herum.
Die kleinsten Vergehen und Unachtsamkeiten der Besatzung führten zu schikanösen Behandlungen übelsten Ausmaßes.
Beschwerden wurden abgeschmettert, die Beschwerdeführer hatten es anschließend doppelt so schwer, ihre Urlaubs- ja sogar Landgangswünsche konnten sie für Wochen, ja Monate vergessen.
Die Offiziere sahen darüber hinweg, die Disziplin an Bord erschien ihnen mustergültig.
Den Schwelbrand sahen sie nicht.
Der erfasste nacheinander nahezu alle Mannschaftsdienstgrade.
Gescharrt um den Ersten Artilleriegasten, denkwürdigerweise zugleich Boots-FDJ-Sekretärs, der, was das Unternehmen wesentlich begünstigte, zeitweilig auch über die Schlüsselgewalt zum Waffenspind verfügte, schmiedeten zuletzt elf Matrosen am Plan, den schlimmen Zuständen zu entrinnen.
In den darin konzipierten Methoden gingen sie nicht sonderlich zimperlich mit ihren Peinigern um: Das Boot, welches an der diesjährigen Flottenparade in Rostock-Warnemünde teilnehmen sollte, würde nach Abschluss der Parade den ostwärts in Richtung Rügen ablaufenden Verband unter Vortäuschung eines Maschinenschadens verlassen und dann, wenn genügend Sicherheitsabstand gegeben, unter Führung der Verschwörer versuchen, mit AK durch die Mecklenburger Bucht die Hansestadt Lübeck zu erreichen.
Zur Durchführung des Vorhabens bedurfte es freilich der Ausschaltung sämtlicher Offiziere und Unterführer.
Detaillierte Vorgaben darüber, in welcher Weise die Führung des Bootes außer Macht gesetzt werden sollte, wurden personenkonkret ausgearbeitet, den Kommandanten plante man als Geisel vor die Rohre des Buggeschützes zu binden.
Jeglicher Widerstand sollte ohne zu zögern sofort und mit allen Mitteln gebrochen werden, die Waffen dazu würde der Artilleriegast bereitstellen.
So weit, so gut.
Die neuralgische Stelle des Planes bestand in der Aufrechterhaltung einer so lang wie möglich glaubhaften, codierten Funkverbindung zur Führung des den Heimathafen anlaufenden Verbandes.
Nach reiflichen Überlegungen der Verschwörer konnte nur der Funkgast diese Aufgabe übernehmen, der aber galt bis dahin als ein der Bootsführung durchaus loyal ergebenes Besatzungsmitglied und gehörte noch nicht zum Kreis der Aufständischen.
Nun galt es, ihn ins geheime Gespinst einzuweben, viel Zeit jedoch blieb nicht mehr.
Der Funkgast zögerte erst, sagte dann sein Mittun zu und offenbarte sich letztens, von tiefen Zweifeln und schier unglaublichen Ängsten zerrissen, der militärischen Abwehr.
Der weitere Verlauf der Geschehnisse unterlag der Routine der Sicherheitskräfte: Das Boot wurde bereits im Vorfeld der Flottenparade nach Rostock-Warnemünde kommandiert, vorgeblich um dort aus dem zentralen Ausrüstungslager noch neue Flaggen, Fender, Leinen, Farben und andere seemännische Gegenstände zu übernehmen.
Der Kommandant teilte die nichts ahnende Besatzung im Warnemünder Hafen in kleine Gruppen mit verschiedenen Anlaufzielen auf, jeweils ein Offizier und ein Unterführer nebst drei bis vier Mann Mannschaften strebten den genannten, weit auseinander liegenden Stellen im Ausrüstungslager entgegen.
Bereitstehende Sicherheitsleute hatten keine Mühe, die in die Fallen laufenden Verschwörer dingfest zu machen.
Ein Militärgericht verurteile sie zu insgesamt dreiundachtzig Jahren Haft, die drei Haupträdelsführer jeweils zu mehr als zehn Jahren.
Direkte Beeinflussung oder gar Anstiftung und Führung durch den Klassenfeind selbst konnten nicht ausgemacht werden, welch unermesslich großer Schaden aber hätte entstehen können, wäre das Vorhaben geglückt.
Funk- und Codierunterlagen, Gefechtsfrequenzen der Raketen- und Artillerieleitsysteme, der Raketen selbst, Mittel und Methoden der elektronischen Freund-Feind-Kennung und jede Menge stinkgeheimer Dokumentation wäre in des Gegners Hände gefallen mit Auswirkungen bis hin in die Kommandozentralen der Warschauer Vertragsstaaten.
So etwas durfte und sollte nie wieder vorkommen! Holstein nickte dem Abwehr-Offizier zustimmend zu.
Und Holstein möge sich der Situation im eigenen Deck erinnern.
Dort führte doch der Maschinenmaat politisch das große Wort, nur eben nicht im Sinne der Partei der Arbeiterklasse, und den hinterhältigen und kriecherischen Bootsmann hatte er dabei auf seiner Seite.
Genau, der Maschinenmaat war ein übler Kerl! Angeblich kurz vor dem Abitur wegen politischer Witze von der Oberschule gefeuert hatte er anschließend eine zweijährige Lehre zum Kraftfahrzeugschlosser abgeschlossen und sich aus welchen Erwägungen auch immer zu vier Jahren Dienstzeit in der Volksmarine verpflichtet.
Weiß der Himmel, welcher Zufall ihn zu den Raketenbooten versetzen ließ, zu der Truppe, die eigentlich mehrfach und immer wieder hinsichtlich ihrer politischen Zuverlässigkeit durchsiebt wurde.
Nun, absolut sicher, wie man im Fall des Entführungsversuches eines Raketenbootes sieht, arbeiteten die Siebe auch nicht, bei Maschinenmaat Vogler allerdings lagen die Fakten auf der Hand: Die Bibel plazierte er für jedermann sichtbar neben seiner Koje.
Er argumentierte nicht verdeckt, stellte seine Überlegungen frank und frei in den Raum, unbedacht dessen, wer gerade anwesend war.
So dauerte es nicht lange, da lag er mit Lehnert und Holstein in einem permanenten politischem Streit.
Fachlich ein Spezialist allerbester Güte verfügte Vogler zudem über eine außerordentlich hohe Intelligenz und ein breites Allgemeinwissen.
In seinem Verhalten gegenüber Unterstellten dagegen konnte er ein regelrechtes Tier sein, immer wieder mussten seine Ansätze zum ungerechten Drill abgebogen oder gemildert werden.
Rein menschlich gesehen erschien er vielen ungenießbar, was nicht nur an seinem ungepflegten Äußeren lag, zuweilen pflegte er sogar, sich zur Nacht ohne jegliche Waschung im Arbeitsanzug in die Koje zu packen.
Vogler würde im kommenden Herbst zwar schon zur Entlassung anstehen, eine Längerverpflichtung seinerseits war kaum zu erwarten, bis dahin konnte er, so er nur wollte, noch erheblichen Schaden anrichten, nicht allein in den Hirnen seiner Mitstreiter.
Vorsicht und Überwachung schienen auch hier also dringend geboten.
Klarer Fall, stimmte Holstein dem Abwehroffizier zu.
Zum weiteren, Holstein wäre die außenpolitische Situation sicher nicht fremd, stünde der Sozialismus in der benachbarten CSSR auf dem Spiele, Einflüsse daraus auf die DDR und ihre Streitkräfte nicht ausgeschlossen.
Wie man sieht, spitzt sich der internationale Klassenkampf an allen Fronten zu, der geheimen nicht ausgeschlossen.
Der Volksentscheid zur Verfassung hatte es zwar klar und eindeutig gezeigt, die Bevölkerung der DDR bekennt sich nahezu abstrichlos zum ersten sozialistischen Friedensstaat auf deutschem Boden unter Führung der marxistisch-leninistischen Partei, jedoch auch in Holsteins Elite-Einheit gibt es Gegner des sozialistischen Weges, nicht viele, aber immerhin.
Auch das hatten die Abstimmungen zum Volksentscheid gezeigt.
Deren potenzielles feindliches Wirken galt es, schon im Vorfeld aufzuklären und dadurch zu verhindern.
Nichts zu deuteln, wie die Dinge jetzt aufbereitet vor ihm lagen, sah Holstein keinen Grund mehr, den Fakten, Argumenten und Werbungen des Abwehroffiziers länger zu widerstehen und verpflichtete sich zur inoffiziellen Mitarbeit für das Ministeriums für Staatssicherheit.
Er war nunmehr trotz anfänglichen Zögerns von der Notwendigkeit dieser Entscheidung felsenfest überzeugt.
Solange die Welt nicht befreit war vom Grundwiderspruch jedweder menschlichen Moral, der sich darin manifestierte, dass es infolge gegebener Besitzverhältnisse Einzelnen, Familien oder Interessengruppen möglich war, sich die Arbeitsergebnisse anderer unentgeltlich anzueignen, dieser Umstand sogar als prinzipielle gesetzliche Rechtsgrundlage fest verankert lag, solange werden sich auch die Kräfte, die gegen diesen Widerspruch ankämpfen, genötigt sehen, in diesem ihren Kampf zu ihnen eigentlich wesensfremden amoralischen Mitteln greifen zu müssen.
„Im übrigen, mein Lieber,“ rundete der Abwehr-Leutnant die skeptischen Einwände Holsteins ab, „im übrigen gibt es eigentlich gar keine klassenindifferente Moral.
Schau sie dir doch an, die bürgerlichen Moralapostel.
Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Heinrich Heine, bekannt.
Mädchenhandel, Prostitution, Drogenkonsum in zunehmendem Maße, selbst in den Hochburgen kapitalistischer Kulturlandschaften, ganz abgesehen von deren völlig verwahrlosten Hinterhöfen in der dritten Welt.
Moral? Fünfhundert Prozent Profiterwartung – es gibt kein Gesetz der Welt, welches sie nicht in den Boden stampfen, so sinngemäß Marx im Kapital.
Erst wenn wir dieses Pack endgültig vom Erdboden gefegt haben, werden wir uns auch solch edlen Problemen wie der Moral mit aller Konsequenz zuwenden können.
“ Holstein klang’s ein wenig nach „Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn“ beziehungsweise „Right or wrong – my country“, er stand eher dafür, die Niederlage des Kapitalismus im Weltmaßstab bereits jetzt schon auch mit der Waffe einer fortschrittlichen, dem Menschen zugewandten Moral herbeizuführen, ein paar Körnchen Wahrheit vermeinte er dennoch aus den Worten des Leutnants herauszuhören, so fügte er sich.
In der Folgezeit überbrachte Holstein dem Verbindungsoffizier regelmäßig in monatlichen Abständen zu vereinbarten Treffpunkten die Stimmungs- und Meinungslage an Bord, die des Maschinenmaates im Besonderen.
Anfangs empfand er dabei höchstrevolutionäre Wichtigkeit und abenteuerliche Abwechslung: Die Treffen mussten mit sicheren Legenden während seiner Abwesenheit von Bord belegt, der Treffpunkt unerkannt an- und abgelaufen werden.
Das hatte etwas vom Räuber-und-Gendarmen-Spiel der Kinderzeit an sich, der Hauch der Kundschaftertätigkeit Richard Sorges schwebte zudem über allem.
Bald aber verlor das Spiel seinen Reiz, vor allem nach der Versetzung des Maschinenmaates Vogler in die Reserve.
Berichte zu schreiben über Alkoholmissbrauch, unerlaubte Landgangs- und Urlaubsüberschreitungen, politische Witze und Albernheiten, Dinge also, die ihm selbst nicht fremd waren, fiel ihm zunehmend schwerer, zumal der vorher gegenständlich fassbare Gegner Vogler nun einer mehr oder weniger anonymen Menge gewichen war.
Insbesondere dem seitens der Polit- und Abwehrorgane geführten Kampf gegen die sogenannte EK-Bewegung konnte Holstein keinen tieferen Sinn abgewinnen.
War es denn wirklich ein Vergehen, wenn sich Mannschaften wie Unterführer nach fast drei- oder vierjähriger Dienstzeit, unter den steten Anstrengungen allgemeiner Gefechtsbereitschaft nur alle drei bis vier Monate in Urlaub fahren dürfend, in der end- und freudlosen Einöde rügenscher Landschaften, dies zumal unter den langen herbst- und winterlichen Bedingungen, eingesperrt, auf ihre Entlassung ins zivile Dasein freuten und dieser Freude offen Ausdruck verliehen? So etwas hatte es beim Militär zu allen Zeiten gegeben und würde es immer geben.
Nein, Holstein ließ es sich nicht im Traum einfallen, Berichte abzuliefern über Besatzungsangehörige, die ihre Bandmaße in Maskottchen steckten und Tag für Tag davon einen Zentimeter abtrennten.
Bei einem, der über sehr gute Beziehungen zum zentralen Bekleidungs- und Ausrüstungslager verfügen musste, hatte er das Bandmaßende gar aus einem Admiralsschulterstück lugen sehen, der Mensch hatte ganz offenbar einen besonderen feinen Sinn für Humor.
Sollte die Offiziere, die da meinten, eifernd Jagd auf die EK-Maskottchen machen zu müssen, dies tun.
Den Erfolg ihrer sie selbst am meisten aufregenden Unternehmungen konnten sie allmorgendlich vor ihren Diensträumen sehen: Je mehr sie gleich Oberleutnant Anders am Vortage jagten, desto größer wuchsen vor deren Kammertüren am folgenden Morgen die Haufen abgeschnittener Bandmaßschnipsel.
Alsbald zerschlugen sich auch Holsteins Vorstellungen, eventuell über diesen Weg den vorzeitigen Absprung vom fernen Dranske in seine Heimatstadt zu schaffen, das war so seitens der Abwehrleute auch keinesfalls vorgesehen, Holsteins Dienste in ihrem Sinne waren am Standort Dranske gefragt und nicht irgendwo in Sachsen.
Holstein, konzentrierte sich in seinen Berichten an den Verbindungsoffizier des MfS, deren zeitliche Abstände er von Mal zu Mal weiter auszudehnen verstand, mehr und mehr auf die Beschreibung technischer Mängel und allgemeiner Unzufriedenheiten.
Er arbeitete ehrenamtlich für die militärische Abwehr des MfS in der 6.
Flottille bis zu seiner Versetzung in den administrativen Dienst des Militärbezirkes IV zunehmend zwiespältig.
Seine Überzeugung von der Notwendigkeit verdeckter, vorbeugender Aufklärung zum Schutze sozialistischer Errungenschaften und Zielstellungen einerseits verband sich mit der Ablehnung der zunehmend geforderten allseitigen und permanenten Rundumbeobachtung.
Einmal, spätabends schon, begegnete Holstein auf dem Weg zum vereinbarten Treffpunkt auf dem Schleichweg durch den Wald Lehnert, sollte der eventuell auch? Er sollte.
Im Verlaufe seiner Dienstzeit bei der Volksmarine und aus Erkenntnissen danach wurde Holstein deutlich, dass sich der Anteil der inoffiziellen Mitarbeiter des MfS dem völlig überspitzten Sicherheitsdenken der Partei- und Staatsführung folgend in den Besatzungen der Boote stetig erhöhte, gelegentlich belauschten sich die Erben des Kundschafters Richard Sorge gegenseitig.
Genutzt hat der maßlose und zumindest aus dieser Sicht zutiefst unmoralische Überwachungsaufwand, wie wir inzwischen wissen, nichts.
Die Monate des achtundsechziger Jahres zogen weiter ins Land, und die politische Lage in der verbündeten CSSR schien aus allen Fugen zu geraden.
Keine Woche verging, in der nicht wenigstens ein Meeting unter Leitung eines Politoffiziers der Flottille zur Bewertung der Ereignisse im Nachbarland stattfand, sie drückten sich geradezu die Türklinken in die Hand.
Obermaat Lehnert, von einem Kurzurlaub aus Prag zurückkehrend, wusste von schier Unglaublichem zu berichten: tagtägliche Umzüge von Menschenmassen, darunter Armeeangehörige in erbarmungswürdiger Anzugsordnung, Plakate und Schmierereien dubiosesten Inhalts an allen Wänden, ein Sänger, der Karel Gott hieß und sich offenbar für Gott hielt, allerorten zum Volkshelden stilisiert.
Die Gefahr lag auf der Hand: Nicht nur Millionen Menschen sollten vom sozialistischen Weg abgedrängt werden, in das an seiner Westgrenze geschlossene sozialistische Verteidigungsbündnis würde eine strategische Schneise bis hin zur Ukraine geschlagen.
Nimmer dürften die verbündeten Streitkräfte dem tatenlos zustimmen! Die steten Botschaften der Flottillen-Agitatoren fanden zunehmend offenes Gehör, immer mehr der Besatzungsangehörigen aller Boote sahen keinen anderen Weg als die präventive Verteidigung des Sozialismus in der CSSR und äußerten sich demgemäß.
Zwar wurden diese Bekundungen vorerst noch durch die Propagandisten der Flottille milde zurückgewiesen, keinesfalls könne militärischer Einmarsch ein gängiger Weg zur Beilegung der Krise sein, im Bewußtsein der Truppen aber verankerte sich die Überzeugung vom notwendigen Schutz des Sozialismus in der CSSR, auf welchem Wege auch immer.
Die geistige Plattform für die Operationen des Warschauer Paktes im August des gleichen Jahres war gelegt und festigte sich zusehends.
Heiß strahlte dann wochenlang die Sommersonne über die Küstenregion.
In den Strandgaststätten wimmelte es von Matrosen in ihren weißen Ex-Blusen.
Unablässig stampften sie bis tief in die Nacht mit den alle vierzehn Tage wechselnden braungebrannten Urlaubermädchen La Bostella, die neueste Kreation menschlichen Ausdrucksgebahrens.
Holstein indes verliebte sich in den ersten Augusttagen in eine schwarzhaarige Schlanke aus Bitterfeld, gerade fertig mit dem Abitur, die Zulassung zum Chemiestudium an der Merseburger Hochschule bereits in der Tasche.
In den nächtlichen Dünen schmusten sie und schmiedeten Pläne, in der Nacht vor ihrer Abreise lagen sie bis zum Morgengrauen am Strand.
Schon im nächsten Urlaub würde er sie in Bitterfeld oder Merseburg oder sonstwo auf der Welt besuchen, Seemannsehrenwort.
Vorerst aber hieß es Abschied nehmen und schleunigst zurück an Bord.
Bis zum Wecken um sechs Uhr musste er das Boot erreicht haben, bis dahin verblieben noch knappe zwei Stunden.
Der erste Linienbus fuhr erst halb sieben, das war zu spät, ein Streifenwagen, der sonst um diese Zeit noch diesen und jenen der Dienststelle entgegenhastenden oder im Straßengraben tief schlafenden Landgänger aufsammelte, weit und breit nicht in Sicht.
Auf der Landstraße kurz vor Altenkirchen hielt ein Bäckereilieferwagen und nahm ihn mit bis zur Abzweigung Wiek, von dort waren es dann noch etwa zehn Kilometer, er würde zu Fuß diese Strecke auf keinen Fall rechtzeitig in der zu verfügbaren Zeit schaffen, und es würde diesmal Ärger geben, mächtigen Ärger.
Zweimal schon war in den zurückliegenden Tagen zu spät von Land gekommen, aus bekanntem Grund.
Beim ersten Mal hatte Ziegler, der Kommandant, schmunzelnd mit dem Finger gedroht, beim zweiten Mal bedenklich die Stirn gekraust und eine deutlich vernehmbare Verwarnung ausgesprochen, jetzt kam er um eine Bestrafung wohl nicht mehr umhin.
Na gut, meinetwegen, der Sommer ist sowieso bald gelaufen, und das nächste Ziel liegt in Bitterfeld.
Holstein hastete durch die Straße in Dranske, vorbei an den Neubauten für die Heimschläfer.
Merkwürdig, keine Seele, ein paar frühe Fischer an der Räucherei, aber keine Mariner zu sehen.
Schweißgebadet erreichte er eine halbe Stunde nach dem regulären Wecken die Torkontrolle und sah mit höchster Verwunderung diese vollständig von spanischen Reitern und anderen Stacheldrahtverhauen eingerahmt.
Auf dem Dach des flachen Wachgebäudes war ein schweres Maschinengewehr in Anschlag gebracht worden, Gurte eingelegt, der Posten am Tor in Felddienstuniform mit Stahlhelm bewehrt.
Bevor Holstein den Dienstausweis aus dem Brustbeutel nesteln konnte, stürzte schon der diensthabende Offizier aus der Tür zum Wachgebäude und herrschte ihn an: „Sehen Sie ja zu, dass Sie zu Ihrer Einheit gelangen, und das Ganze im Laufschritt, wenn ich bitten darf! Seit heute morgen vier Uhr haben wir in der gesamten Flottille Gefechtsalarm, und das ist keine Übung! Ab jetzt, zack, zack!“ Holstein stopfte den Dienstausweis in den Brustbeutel zurück, klemmte sich die Bändermütze unter den Arm und setzte sich in Richtung Hafen in Trab.
Ungeheuerliches musste, während er mit Grit in den Dünen lag, in der Nacht geschehen sein, denn was er unterwegs sah, verhieß Krieg.
Die wenigen Armeeangehörigen, denen er begegnete, waren allesamt hoch gerüstet, selbst die sonst so flotten Militärkraftfahrer trugen Stahlhelm und MPi, die Magazine offensichtlich prall gefüllt.
Er stolperte total erschöpft über die Baumwurzeln der Schleichwege im Wäldchen und blickte an der Torpedoslipanlage mit höchster Verwunderung über den leergefegten Hafen.
Nur die leichten Torpedoboote tümpelten noch in ihren Päckchen, die Besatzungen jedoch im orangefarbenen Kampfanzug vollständig an Bord.
Ein paar Hilfsschiffe und die Abteilungswohnschiffe sah Holstein verstreut, wie vergessen an ihren Liegeplätzen festgemacht.
Selbst die 25-Millimeter-Waffen der Hilfsschiffe waren gefechtsmäßig besetzt und schwenkten ihre Rohre drohend aufwärts.
Holstein schlich sich an Bord seines Abteilungswohnschiffes und lief dort dem Funkmechaniker in die Arme.
Der zerrte ihn in die Funkwerkstatt.
„Mann, Holstein, du hast vielleicht Nerven! Sie suchen dich schon seit über zwei Stunden! Wie siehst du denn überhaupt aus? Solltest dich mal im Spiegel sehen: Über und über mit Knutschflecken bepflastert, deine Ex-Bluse und die Hose total versaut! Schwanz verbrannt, die Nutte kichert – na hoffentlich allianzversichert.
Weißt du nicht, was los ist? Die Russen sind in der Nacht in die Tschechei einmarschiert, mit Panzern, Hubschraubern, Kampffliegern und allem Drum und Dran.
Polen und Bulgaren wohl auch, richtig dicke Suppe also.
Alle Boote sind raus zu den Bereitschaftsräumen, deines nicht, da hast du Schwein, das liegt mit Maschinenschaden an der Pier gegenüber.
Sieh zu, das du an Bord kommst.
“ Holstein umrundete noch einmal den Hafen und meldete sich mit einer genuschelten Entschuldigung beim Kommandanten verspätet vom Landgang zurück.
Der hatte momentan andere Sorgen, versprach ihm aber, sich, so er den Kopf wieder frei hätte, gebührend der erneuten Verspätung zu widmen.
Diesmal würde Holstein aber nicht mit einem blauen Auge davon kommen, auch versprochen.
So etwas müsste man ja schon als nachhaltige Bösartigkeit ansehen.
Holstein zerrte sich die verschmuddelte Ausgangsuniform vom Leibe, den Kampfanzug über, schlich sich zum Waffenleit-Schapp und legte sich hundemüde auf den Gummimatten nieder.
Er sank dort in einen bleiernen Schlaf und verblieb in diesem traumlos und ungestört bis in die frühen Nachmittagsstunden.
Das Datum im Bootstagebuch verwies auf den 21.
August 1968.
Obermaat Gert Holstein unterzeichnete am Nachmittag des selbigen Tages eine Dienstverpflichtung in der NVA für insgesamt zehn Jahre.
Es wäre unsinnig, ihm zu unterstellen, er hätte dies allein aus purem sozialistischem Patriotismus getan.
Vielmehr spielten eine nicht geringe Anzahl diesen Schritt begünstigende Faktoren eine erhebliche Rolle.
Zum einen wurde ihm angeboten, die gerade frei werdende Planstelle des Funkmessmechanikers, verbunden mit der sofortigen, vorzeitigen Beförderung zum nächsthöheren Dienstgrad zu übernehmen.
Das hatte einerseits eine bedeutende Steigerungen seiner momentanen Dienstbezüge zur Folge und verschaffte ihm anderseits genügenden Spielraum, sich Gedanken über die „Zeit nach der Fahne“ zu machen.
Sollte die Sache mit Grit, der Bitterfelderin, wie es aussah in feste Bahnen kommen, könnte er während ihres Studiums die familiäre Finanzierung sicherstellen, danach umgekehrt.
Auch bei dieser erneuten Dienstverpflichtung aber gilt: Sie hätte es auf keinen Fall gegeben ohne seine prinzipielle Überzeugung von der Lebens- und Verteidigungswürdigkeit des sozialistischen Vaterlandes.
Gar bald jedoch zerstoben die Vorstellungen dauerhafter Beziehungen nach Bitterfeld, der Briefwechsel von dort und nach dahin kam zum Erliegen, die Liebe auch.
Holstein versah als Radarmechaniker für die nächsten zwei Jahre seinen Dienst in der Schiffsstammbesatzung der Abteilung und kehrte dann als zweiter Wachoffizier an Bord eines Raketenbootes zurück.
Versuche der Kaderabteilung der Flottille, ihn für die fünfundzwanzigjährige Offiziersdienstzeit zu gewinnen, wies Holstein zurück, ten years enough.
Im Frühjahr 1973, mittlerweile verheiratet und Vater eines einjährigen Sohnes, verließ Holstein ohne jegliche Wehmut die Volksmarine für immer.
Aus familiären Gründen hatte er für die Zeit seiner verbleibenden beiden Dienstjahre um die Versetzung zum Wehrkreiskommando seiner Heimatstadt ersucht, was ihm nach einigem Hin- und- Her gewährt wurde.
Die Worte, die ihm sein letzter Kommandant als Widmung in den als Abschiedsgeschenk der Besatzung überreichten Bildband Rügens schrieb, hätte Holstein zu jeder Zeit, auch noch heute, gegen alle Orden und Medaillen eingetauscht, die ihn im Laufe der Zeit zugesprochen wurden.
In der wie stets gestochenen Handschrift des Kapitänleutnants Ziegler ist zu lesen: „In Anerkennung für Ihre Anstrengungen und Verdienste im Interesse einer hohen Einsatzbereitschaft, für Ihre Zuverlässigkeit und Kameradschaftlichkeit.
“ Maat Pohler, Holsteins einstiger Trink- und Zimmergenosse während der Maatenausbildung in Stralsund-Parow, rutschte nächtens von der vereisten Stelling, als er vom Landgang auf sein in der Peenewerft Wolgast zur Überholung liegendes Schiff zurückkehrte.
Man fand ihn im nächsten Februar, als das über Winter tief zugefrorene Hafenbecken die aufgedunsene Leiche freigab.
Obermaat Eibner, der vor Jahren in der Maatenausbildung dem Kompaniechef jede Menge Bierflaschen vor die Füße rollte, fuhr als Funkmeßmaat auf dem Torpedoschnellboot, welches im Herbst 1968 kurz vor der Aufhebung der erhöhten Gefechtsbereitschaft im Rahmen einer Aufklärungsmission ausgangs der Kieler Bucht vor Anker lag.
Im dichten Nebel lief das Fährschiff der einer skandinavischen Linie auf das Torpedoboot auf, welches backbordseitig leckgeschlagen kenterte und kieloben binnen weniger Minuten sank.
Eibner und der Funker, die sich beide eine Gefechtsstation teilten, hatten keine Chance.
Als das Boot gehoben wurde, fand man sie in einer Luftblase erstickt, nackt und fest umschlugen.
Mit den beiden jungen Seeleuten starben vier weitere, zumeist vom Aufprall zerquetscht oder ohnmächtig in der See liegend ertrunken.
Ihre Körper wurden bis an die dänische Küste geschwemmt.
Die Besatzung der Fähre bemerkte den Zusammenstoß, warf ein paar Rettungsmittel über Bord und setzte unbeirrt ihren Kurs fort, nicht ohne zu versäumen, noch einen Funkspruch in den Äther zu entlassen: „Kleines Holzboot gerammt.
“ Mehr ließ der straffe Fahrplan der Fähre nicht zu.
Ein 1969 am Marinestandort Dranske zu Ehren der während des Gefechtseinsatzes gestorbenen Volksmarinesoldaten errichtetes Denkmal zeugt vom sinnlosen Tod sechs junger Menschen.
Oberleutnant Ziesel, der im estnischen Tallinn aus falsch verstandener Sentimentalität heraus die Sendungen der Deutsche Welle allabendlich in die Wohndecks der Mannschaften übertragen ließ, wurde nach einem militärischen Disziplinarverfahren auch mit einer Parteistrafe bedacht und sodann als Bordoffizier nicht mehr tragbar zum rückwärtigen Dienst versetzt.
Über seinen weiteren Lebensweg ist nichts bekannt.
Funkmechaniker Hellmann durchlebte eine wundersame, für die Politorgane der Flottille völlig unverständliche, ja geradezu entsetzliche ideologische Wandlung.
Im aufkeimenden Frühling des Jahres 1969, die Verhältnisse der erhöhten und zeitweilig vollen Gefechtsbereitschaft des vergangenen Herbstes hatten dem normalen Dienstbetrieb wieder Platz gemacht, geriet er während eines dienstlichen Landganges nach Altenkirchen im Uhrengeschäft mit der dort beschäftigten Andrea Timm in Streit.
Hellmann hatte Wochen vorher in diesem Geschäft schon seine Armbanduhr zum Zwecke des Wechselns ihres beschädigten Glases hinterlegt, war jedoch jedesmal, so er dort erschien, um die Uhr im gebrauchsfertig reparierten Zustand abzuholen, auf die nächstfolgende Woche vertröstet worden: so viel zu tun jetzt, so viel zu tun! Am besagten Tag nun kramte Andrea Timm auf Hellmanns höchstärgerliche Anfrage eine kleine Schachtel hervor mit der Bemerkung: „Na ja, da war wohl wirklich nicht mehr viel zu machen, nöch.
“ In der Schachtel befand sich Hellmanns einstige Armbanduhr, nunmehr zerlegt in all ihre Einzelteile.
Hellmann rastete aus.
Nicht zu fassen mit diesem lausigen Fischernest! Letzte Woche erst war er hier beim Zahnarzt vorstellig gewesen, der hatte vereiterte Wurzeln am schmerzenden Backenzahn diagnostiziert und dessen umgehende Amputation für unumgänglich befunden.
Nur befand sich leider kein Narkotikum mehr in der Praxis, so dass der bodenständige, im letzten Weltkrieg an zahlreichen Fronten hinreichend erprobte Medikus in Ermangelung dessen seiner Ehefrau und Gehilfin ein Zeichen zum festeren Zupacken des verkrampft auf dem Zahnarztstuhl klemmenden Hellmann gab, den kranken Zahn mit der Zange straff fasste und mit der Bemerkung „Jo, jo, min Jung, wir wern jo oll mol bi de Militär!“ rabiat aus dem Kiefer riss.
Dem überraschten und in seiner Lage völlig wehrlosen Hellmann schoben sich in wahnsinnigen Schmerz gebettete dunkle Wolken vors Gesicht, statt eines Schreis entrann sich nur ein dumpfes Röcheln seiner Kehle.
Als ihm die Sinne wiederkehrten, half ihm die Ehefrau-Gehilfin des Zahnarztes aus dem Behandlungsstuhl und stand dem leicht Schwankenden auch noch ein Weilchen stabilisierend zur Seite.
Der Landarzt selbst entließ Hellmann aus der Behandlung mit ausgesprochen kargen tröstend-ermunternden Worten, nicht ohne ihm jedoch vorher noch einen reichlich doppelten Steinhäger „zur Desinfektion und Stärkung“ verabreicht zu haben.
Das also geschah fast an gleicher Stelle vor einer Woche, nun das Drama mit der Armbanduhr! Andrea Timm floh ob der Drohgebärden des tobenden Seemannes vom Ladentisch in die schützende Werkstatt zu ihrem Herrn, Meister und Geschäftsinhaber.
Der erschien und versprach Abhilfe.
Hellmann würde einen adäquaten Ersatz erhalten, es wäre dem Genossen von der Volksmarine doch nicht zuzumuten, eventuell die Zeit zu verschlafen.
Andrea Timm, neunzehnjährige Tochter des Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft, steckte ihren blond-bezopften Kopf wieder vorsichtig durch die Tür zur Werkstatt, Hellmann schien fürs erste besänftigt.
Der anfängliche Hader zwischen den beiden mutierte zur tiefen Liebe, sie hingen fürdhin aneinander wie Pech und Schwefel, galten alsbald als verlobt und hatten miteinander nur ein einziges Problem: Maat Hellmann, seit drei Jahren aktiver Parteigenosse, Inhaber mehrerer Funktionen in SED und FDJ, stieß auf den sanften, aber nichtsdestoweniger unnachgiebigen evangelischen Glauben seiner Andrea.
Während sie des Sonntags Vormittag in einer schmalen Bankreihe der Dorfkirche andächtig den Worten des Pfarrers lauschte, spazierte er am Ufer des Boddens daher und legte sich die Worte für seinen Diskussionsbeitrag zur nächsten FDJ-Agitatoren-Versammlung zurecht.
So lebten die beiden weltanschaulich nebeneinander wie Romeo und Julia und konnten und wollten allein in dieser Angelegenheit zueinander nicht finden.
Der zutiefst antagonistische Widerspruch löste sich durch Schicksalsfügung.
Ein halbes Jahr vor Hellmanns Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst ereilte ihn ein schlimmes Nervenleiden, dies verbunden mit üblen, nicht heilen wollenden Hautausschlägen.
Die Kunst der behandelnden Ärzte fruchtete nichts, auch nicht die der Hautärzte, die ihn für ein Quartal in diversen Lazaretten der NVA verwalteten.
Dort nahm Hellmann ob des reichlichen und guten Essens zwar über zehn Kilo an Körpergewicht zu, an seinen Hautekzemen aber änderte sich nichts, obgleich man alle möglichen und unmöglichen Salben und Tinkturen an ihm ausprobierte.
So kehrte er wohlgenährt, aber nach wie vor am ganzen Körper mit eiternden und grindigen Pickeln übersät aus dem Lazarett zurück.
Glauben solle er, so hatte es ihn die Ärzte zum Abschied vermittelt, glauben, das hätte in solchen Fällen schon geholfen, die Psyche des Menschen könne oft mehr bewirken als die Kunst der Mediziner und nachweislich Berge versetzen.
Mit der Kunst der Mediziner war es bisher nicht weit her gewesen in Sachen Hellmann, in Sachen dessen Glaubens noch weniger.
Glauben wie? Glauben woran? Andrea Timm aber erwies sich in Glaubensfragen als sachkundige, geduldige und erfolgreiche Lehrerin.
Mit zunehmenden christlichen Glaubensanteilen entschwanden Hellmanns plagende Pickel.
Als seine Haut vollständig gesundete und die normale Beschaffenheit auch nachhaltig beibehielt, legte Hellmann all seine Funktionen in Partei und FDJ nieder, trat auch aus den zugeordneten Organisationen aus und der evangelischen Kirche bei.
Fortan saß der infolge des Fehlschlags wissenschaftlicher Heilmethoden in seinen Glaubensangelegenheiten Konvertierte an den sonntäglichen Vormittagen Seite an Seite mit Gattin Andrea, geborener Timm, in der Bankreihe der dunklen, muffigen, kleinen Dorfkirche und lauschte hingebungsvoll und andächtig den salbungsvollen Worten des Pfarrers.
Hellmann studierte nach Ablauf seiner Dienstzeit Theologie an der Martin-Luther-Universität in Halle, er gehörte in den Wendezeiten zu den Aktivisten des Neuen Forums seines Wohnkreises.
Maat Schneider, der dem Politoffizier Anders sturzbetrunken im Anschluss an den Vollmerschen Umtrunk mit nacktem Oberkörper in die Arme taumelte, probte mit dem Rudergänger während eines der routinemäßigen Waffenreinigungen, wer nach Art einschlägiger Wild-West-Filme der schneller ziehende und ladende Schütze sei: er mit der MPi oder der Rudergänger mit der Pistole.
Auf Kommando der den Wettstreit bewertenden Jury, bestehend aus Signalgast und Maschinenmaat, entsicherten beide die Waffen, luden durch und drückten ab.
Was keiner der Beteiligten ahnte, in der Pistole des Funkmechanikers befand sich entgegen jedweder Dienstvorschrift noch ein mit Neunmillimeterpatronen bestücktes Magazin.
Der Schuss durchschlug Schneiders Leber von vorn und trieb auf seinem Rücken an der klaffenden Austrittsöffnung unterhalb der Rippenbögen neben Leberfetzen auch jede Menge Lunge aus dem Körper.
Wie durch ein Wunder überstand Schneider mehrere darauffolgende Operationen, zuletzt hörte Holstein davon, dass er wiederum in das Armeelazarett in Bad Saarow eingeliefert worden sei.
Politoffizier Anders schaffte es noch, in der Politabteilung der Flottille die Dienstgradleiter bis zum Fregattenkapitän zu erklimmen.
Kurz vor seiner Versetzung zur Politabteilung des Kommandos der Volksmarine ereilte ihn die Wende.
Er pachtete vor Arkona einen Kiosk und verkauft dort Ansichtskarten und Zeitschriften.
Korvettenkapitän Krahnewinkel schied nach 25 Jahren Dienstzeit aus der Volksmarine aus, arbeitete noch bis zur Wende in einem stralsunder Projektierungsbetrieb und lebt heute als verwitweter Rentner in einem kleinen Häuschen bei Bergen auf Rügen.
Obermaat Vogler, der Maschinenmaat, holte nach seiner Versetzung in die Reserve in Abendkursen der Volkshochschule das Abitur nach, studierte dann Automatisierungstechnik, arbeitete danach als Konstrukteur im magdeburger Dieselmotorenwerk und übersiedelte nach endlosen Prozeduren und erheblichen Schikanen der Behörden im Sommer 1987 in die Bundesrepublik Deutschland.
Man erzählt sich, er sei noch immer unverheiratet und gleichermaßen ungepflegt wie damals.
Obermaat Lehnert verpflichtete sich wenige Tage nach Holstein ebenfalls zu einer Gesamtdienstzeit von zehn Jahren.
Er blieb allerdings an Bord des Bootes, fuhr weiter als Leiter der Raketenleitzentrale.
Nach der Entlassung aus der NVA wechselte er allen Warnungen und Empfehlungen Holsteins zum Trotz hauptamtlich in den Dienst des MfS.
Dort absolvierte er ein Fernstudium mit dem Abschluss eines Juristen und führte zuletzt in einer Kreisdienststelle des Bezirkes Magdeburg über zweihundert inoffizielle Mitarbeiter.
Zermürbende, täglich mehr als zehnstündige Arbeitstage, Sonnabende und Sonntage darin eingeschlossen, rieben ihn zusehends auf.
Die frustrierende Erfolglosigkeit seines Tuns trug gleichermaßen zu seinem körperlichen Verfall bei.
Gesundheitlich schwer angeschlagen verschanzte er sich befehlsgemäß im November 1989 zur Abwehr von Angriffen auf seine Dienststelle mit fünf weiteren Genossen in den Diensträumen des Gebäudes.
Sie warfen die Handfeuerwaffen, jede Menge Munition und die Handgranaten jedoch in eine Ecke und betranken sich bis zur Besinnungslosigkeit.
Lehnert versuchte sich nach der Auflösung des MfS in mehreren Berufen und Tätigkeiten, fasste aber keinen Tritt.
Noch vor der ersten freien Volkskammerwahl in der DDR stellte seine Frau den Scheidungsantrag.
Lehnert schoss sich mit einer für wenig Geld bei einem Trödler in der Nähe des Brandenburger Tores in Berlin erstandenen Pistole des Typs „Makarow“ in den Abendstunden des zweiten Oktober 1990 in die Stirn, wenige Minuten vor dem Erlöschen der DDR.
Die zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilten Deserteure, die 1968 die Flucht mit einem Raketenboot nach Lübeck planten, fielen 1972 unter die im Zuge des Grundlagenvertrages mit der BRD ausgehandelte Amnestie für politisch Inhaftierte und wurden in den Westen Deutschlands abgeschoben.
Der Volksmarine-Standort Dranske versank nach der Wende zur absoluten Bedeutungslosigkeit.
Bis auf wenige Ausnahmen, wurden alle dort liegenden Kampfschiffe verschrottet oder verkauft, die darauf und in den Stäben und rückwärtigen Einrichtungen dienenden Armeeangehörigen in die Arbeitslosigkeit entlassen, der Militär-Standort letztlich ganz geschlossen.
Der Ort Dranske zählte alsbald zu den Gemeinden in Deutschland mit allerhöchster Beschäftigungslosigkeit, betroffen davon nicht nur die Militärangehörigen der ehemaligen 6.
Flottille sondern auch die zahlreichen ehemaligen Zivilangestellten, die Fischer der Fischerei-Produktionsgenossenschaft und jede Menge Beschäftigte anderer Einrichtungen.
Die eigens für die Berufssoldaten errichteten Neubauten verfielen und verwahrlosten mit fortschreitendem Leerstand zusehends, nunmehr wird über ihren teilweisen Abriss nachgedacht.
Die ungenutzten militärischen Anlagen und Einrichtungen des Hafens sollen, so es nach den Plänen interessierter Investoren geht, einer Marina für ausreichend betuchte Segler weichen.
Damit gehört die militärische Nutzung des Standorts Dranske auf Rügen nach nahezu einhundert Jahren endgültig der Vergangenheit an.