Nicht alltäglich

Hamburg/Kiel - 10.06.2011

Todesermittlungsverfahren wegen des Unfalls von Obermaat (OA) Sarah Lena Seele an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock eingestellt

Am 7. November 2010 kam es im Rahmen der Segelvorausbildung zu einem tödlichen Sturz der Offizieranwärterin Seele aus der Takelage der Gorch Fock.
Nach umfangreichen Ermittlungen hat die Staatsanwaltschaft Kiel das Todesermittlungs-verfahren am 7. Juni 2011 eingestellt. Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für strafrechtlich zu bewertendes Fehlverhalten haben sich weder gegen Verantwortliche der Schiffsführung, Mitglieder der Besatzung oder sonstige Angehörige der Marine ergeben.

Zur Person der Sarah Lena Seele:
Die zum Todeszeitpunkt 25-jährige Obermaat (OA) Seele versah seit dem 1. März 2007 ihren Dienst bei der Deutschen Marine. Aufgrund ihrer guten Leistungen wechselte sie am 2. August 2010 in die Offizierslaufbahn. Bestandteil der Offizierausbildung ist unter anderem die sog. seemännische Basisausbildung an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock. Im Rahmen der 156. Auslandsausbildungsreise fand am 5. November 2010 in Salvador de Bahia in Brasilien ein erneuter Wechsel der Crew statt, zu der auch Obermaat (OA) Seele gehörte.

Festgestellter Sachverhalt:
Am 6. November 2010, dem ersten Tag der Segelvorausbildung, erfolgten gemäß Bordbefehl verschiedene Einweisungen und Belehrungen; so zum Beispiel durch den zuständigen Segeloffizier die sog. Toppsbelehrung (Verhaltensmaßregeln beim Aufentern in die Takelage) und durch den Wachführer die Einweisung in die Toppsgurte, die unter anderem dazu dienen, die Kadetten auf ihrer Arbeitsstation in den Rahen gegen Absturz zu sichern.
Am 7. November 2010 begannen wegen der zu erwartenden Mittagshitze (die ersten Übungen in der Takelage sollten bis dahin abgeschlossen sein) die Enterübungen bereits gegen 06:30 Uhr. Obermaat (OA) Seele war mit weiteren 38 Lehrgangsteilnehmern für den Großtopp (der mittlere der drei Masten der Gorch Fock) eingeteilt. Die Segelvorausbildung wurde durch einen Divisionsoffizier geleitet, für Vortopp und Großtopp standen jeweils ein Segeloffizier und ein Wachoffizier zur Verfügung. In der Takelage selbst waren am Großtopp insgesamt neun Ausbilder und zusätzlich 11 Hilfsausbilder aus dem Bereich der Stammbesatzung eingesetzt. Die Wetterbedingungen an diesem Tag waren ruhig.

Die Kadetten hatten zunächst mindestens zweimal auf die etwa 12 m über Deck gelegene Marssaling und - nach einer etwa 30-minütigen Pause - auf die in Höhe von etwa 27 m über Deck gelegene Bramsaling auf- und niederzuentern. Diese "Gewöhnungsübungen" verliefen ohne Schwierigkeiten.

Nach einer weiteren 30-minütigen Pause begann die Übung "Auslegen auf die Rahen". Die Kadetten sollten lernen, aus dem Want umzusteigen und ihre Arbeitspositionen auf den Rahen zu erreichen. Im ersten Durchgang, in dem Obermaat (OA) Seele auf einer Rah zwischen Mars- und Bramsaling eingesetzt war, hatte sie keine Schwierigkeiten. Nach Angaben von Kameraden machte sie einen selbstsicheren, motivierten und konzentrierten Eindruck. Im folgenden Durchgang gelangte Obermaat (OA) Seele auf die Bramrah.

Nach dem Niederentern wurde vor dem letzten Durchgang eine weitere Pause gewährt. In dieser Pause äußerte Obermaat (OA) Seele gegenüber ihren Kameraden, dass sie sich zuletzt in einem "Kraftloch" befunden habe und die Anstrengung deutlich spüre. Sie wolle sich deswegen jedoch noch nicht an einen Ausbilder wenden, was sie auch nicht tat. Beim erneuten und letztmaligen Aufentern wurde Obermaat (OA) Seele von einem Ausbilder zwischen Mars- und Bramsaling angewiesen, nicht weiter aufzuentern und sich dort im Want stehend einzupicken. Diesem waren beim vorangegangenen Durchgang Probleme der Soldatin beim Aufentern aufgefallen. Nachdem der Ausbilder sich zunächst um andere Lehrgangsteilnehmer auf seiner Station gekümmert hatte, stellte er kurz darauf fest, dass Obermaat (OA) Seele seiner Anweisung nicht gefolgt war. Die Soldatin war über die Bramsaling bis zur Bramrah aufgeentert. Dort absolvierte sie problemlos ihre Übungen.

Beim Niederentern über die Bramsaling lehnte sie das Hilfeangebot des dort postierten Ausbilders ab und verlor, nachdem sie sich bereits unterhalb der Plattform befand, den Halt. Obermaat (OA) Seele stürzte gegen 10.27 Uhr aus einer Höhe von 27 m auf das Mitteldeck. Nach sofortiger notärztlicher Versorgung durch den Schiffsarzt erlag sie am 7. November 2010 um 23:05 Uhr ihren schweren Verletzungen.
Die genaue Ursache für den Absturz haben die Ermittlungen nicht erbracht.

Strafrechtliche Würdigung:
Zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer fahrlässigen Tötung (§ 222 StGB) liegen nicht vor.

Einleitend ist zu bemerken, dass das Festhalten der Marineführung an dieser traditionellen Art seemännischer Grundausbildung mit den damit einhergehenden Gefahren nicht der strafrechtlichen Überprüfung durch die Staatsanwaltschaft unterliegt. An der Entscheidung, diese Art der Ausbildung fortzuführen, lässt sich eine individuell vorwerfbare Pflichtverletzung als Grundvoraussetzung eines strafrechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurfs nicht festmachen. Eine strafrechtliche Haftung kann nur aus Pflichtverstößen abgeleitet werden, die den Verantwortlichen im Rahmen der Ausgestaltung, der Durchführung oder der Überwachung des (gefährlichen) Ausbildungsbereichs zuzurechnen sind.

Im Einzelnen:
- Obermaat (OA) Seele war am 7. November 2010 borddienstverwendungsfähig. Im Einklang mit der Vorschriftenlage wurde ihr durch eine militärärztliche Ausnahme-genehmigung (geringe Körpergröße) mit Entscheid vom 31. Juli 2007 die Borddienst-verwendungsfähigkeit (ohne Auflagen und ohne zeitliche Befristung) zugesprochen. Anfängliche Spekulationen über eine Borddienstuntauglichkeit infolge Übergewichts entbehren jeder Grundlage. Das später festgestellte (erhöhte) Körpergewicht ist auf die intensivmedizinische Versorgung sowie die Vorbereitung des Leichnams für den Lufttransport zurückzuführen.
- Die Lehrgangsteilnehmer wurden am 6. November 2010 mit Blick auf die bevorstehenden Enterübungen ausreichend belehrt und eingewiesen. Der Obermaat (OA) Seele zugewiesene Toppsgurt war zertifiziert und turnusgemäß letztmalig am 2. Mai 2010 kontrolliert worden. Er befand sich technisch in einem ordnungsgemäßen Zustand und war individuell auf die Soldatin eingestellt worden.
- Die technische Sicherheit in der Takelage war gewährleistet. Erst im Frühjahr 2010 war diese vollständig durch den Germanischen Lloyd abgenommen worden. Zudem war die Takelage nochmals am 6. November 2010 anlässlich der vorgeschriebenen Toppskontrolle beanstandungsfrei überprüft worden.
- Zur Frage, ob aufgrund einer fehlenden durchgängigen Absturzsicherung ein sorgfaltswidriges Unterlassen angenommen werden kann, ist festzustellen, dass an der Absturzstelle technisch jedenfalls eine Absturzsicherung durch Installation eines sog. Umgehungsstanders möglich gewesen wäre. Aufgrund der Anforderungen im Segelbetrieb würde eine solche Vorrichtung jedoch beim Aufentern zu zeitlichen kräftezehrenden Verzögerungen führen und damit andere Gefahrenquellen eröffnen. Die Nichtinstallation einer solchen Sicherung stellt sich damit nicht als objektive Pflichtverletzung dar, sondern als vertretbares Ergebnis einer Abwägung zwischen verschiedenen Gefahrenlagen.
- Wesentlichen Raum hat die Prüfung eingenommen, ob durch den Befehl zum letztmaligen Aufentern Obermaat (OA) Seele in eine merkbare Überforderungssituation gebracht wurde.
Zwar sollen nach der Ausbildungsanweisung des Marineamtes die Lehrgangsteilnehmer bis an die Grenze ihrer individuellen Belastbarkeit herangeführt werden, wobei dies aber ausdrücklich behutsam und unter Aufsicht zu erfolgen hat. Daran gemessen war für die Ausbilder zu diesem Zeitpunkt eine Belastungssituation aber keine Überlastungssituation erkennbar, die eine Meldung an den Wachführer und ein Eingreifen zur Folge hätte haben müssen.
Auch wenn einiges dafür spricht, dass der Absturz der Soldatin aus der Takelage auf einen Erschöpfungszustand zurückzuführen sein könnte, ist gleichwohl dessen genaue Ursache nicht hinreichend sicher feststellbar. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze: Möglicherweise enterte Obermaat (OA) Seele zu schnell nieder und rutschte ab oder sie fand mit den Füßen nicht den richtigen Halt in den Webeleinen des Wantes. Denkbar ist außerdem, dass sie bereits Fuß gefasst hatte, aber in Folge von Entkräftung mit den Händen den Halt verlor und abrutschte.
Von einer objektiven Pflichtverletzung wäre nur dann auszugehen, wenn es für die Ausbilder erkennbare Anzeichen dafür gegeben hätte, dass Obermaat (OA) Seele aufgrund ihrer persönlichen Verfassung nicht mehr in der Lage war, die Enterübungen fortzusetzen.
Zwar gibt es Hinweise darauf, dass Obermaat (OA) Seele zuletzt Mühe beim Aufentern hatte (so bedurfte sie in den letzten beiden Durchgängen im Bereich der Bramsaling einer Hilfestellung), jedoch gelangten weitergehende Schwierigkeiten oder ihre Äußerungen im Kameradenkreis den Ausbildern nicht zur Kenntnis. Auch tauschte Obermaat (OA) Seele - wahrscheinlich vor dem vorletzten Durchgang - die ihr zugewiesene Position (heimlich) mit einem anderen Kadetten, um diesem den Einsatz auf einer tiefer gelegenen Rah zu ermöglichen. Sie selbst lehnte angebotene Hilfe durch die Ausbilder ab (wie zuletzt vor dem abschließenden Niederentern). Möglicherweise kam sie auch deshalb der Weisung eines Ausbilders, sich in der Want stehend einzupicken, nicht nach.
Von ihren Kameraden wird Obermaat (OA) Seele als eine leistungsbereite Soldatin beschrieben, die trotz aller Belastungen ihren Dienst stets mit Freude versah, andere motivierte, Hilfestellung gab und Vorbildfunktion ausübte.


Im Ergebnis liegen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine objektive Pflichtverletzung vor, sodass von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens abzusehen war.

Gleichwohl sollen folgende Umstände Erwähnung finden:
Ausweislich der durch den Kommandeur der Marineschule Mürwik erlassenen Ausbildungsrichtlinie für das Segelschulschiff Gorch Fock ist ein "Zeitansatz von zehn Tagen vorgesehen". Dieses enge Zeitfenster erscheint angesichts der zu diesem Zeitpunkt zahlreichen weiteren Aufgaben (z. B. Ausrüstung des Schiffes mit Proviant) äußerst knapp bemessen.

Hier stellt sich die Frage, wie die Ausbilder das zwischen "Ausbildungsrichtlinie" und der oben zitierten "Ausbildungsanweisung" (behutsame Anleitung unter Aufsicht) entstehende Spannungsfeld auflösen können. Trotz einer Vielzahl zu beachtender Dienstvorschriften, Weisungen und Befehle gibt es für diese Ausbildungsphase nur unzureichende Regelungen. Es bleibt dem Ermessen der Schiffsführung überlassen, wie mit den Kadetten in den ersten zehn Tagen an Bord verfahren wird. Dies birgt die Gefahr unterschiedlicher Herangehensweisen und Unklarheiten. So war z. B. nicht zu klären, welche Vorkommnisse (zum Beispiel persönliche Schwierigkeiten der Kadetten) in der Takelage für die Ausbilder am 7. November 2010 meldepflichtig und welche Meldewege einzuhalten waren.
Klare Strukturen bzw. Vorgaben sind indes möglich. Dies zeigt die Vorgehensweise der Schiffsführung nach dem Unfallgeschehen. Die Segelvorausbildung ist neu strukturiert worden, offensichtlich ohne dass die erforderliche Flexibilität in der Ausbildung verloren ging.

Gang des Verfahrens:
Bereits am 13. November 2010 haben Beamte des Kommissariats 1 der Bezirkskriminalinspektion Kiel, unterstützt durch einen Beamten der Wasserschutzpolizei Kiel, die Ermittlungen vor Ort in Brasilien aufgenommen. Im Laufe des Verfahrens sind über 50 Zeugen vernommen worden, einige wiederholt zur Abklärung von Widersprüchen.

Zudem konnten an Bord des Segelschulschiffs Gorch Fock, in der Marineschule Mürwik, im Schifffahrtsmedizinischen Institut der Marine in Kronshagen sowie im Geschäftsbereich des Inspekteurs der Marine in Bonn die zur Beurteilung erforderlichen Akten, Dokumente, Befehle und Vorschriften eingesehen und beigezogen werden.

Über das Ergebnis der Ermittlungen und den Abschluss des Verfahrens hat der Dezernent die Mutter und deren Rechtsbeistand am 8. Juni 2011 persönlich unterrichte

Verantwortlich für diesen Pressetext: Oberstaatsanwältin Birgit Heß | Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel | Schützenwall 31- 35, 24114 Kiel